»Sonst klauen die den anderen die Jacken«

Was bedeutet Inklusion? Der Schulleiter Reinhard Stähling weiß die Antwort

  • Lesedauer: 4 Min.
»Berg Fidel – Eine Schule für alle« heißt ein Kinofilm, der aus der Perspektive der Kinder den Alltag an einer Grundschule im nordrhein-westfälischen Münster dokumentiert. Das Besondere an dieser Schule: Hier lernen alle Kinder gemeinsam, ganz gleich, ob sie als behindert eingestuft wurden oder nicht, und ganz gleich, mit welchen Defiziten sie zu Hause aufwachsen. Reinhard Stähling leitet die Schule. Thomas Gesterkamp hat ihn nach seinem Erfolgsrezept gefragt.

nd: Was genau heißt »Schule für alle«?
Stähling: Kein Kind wird ausgeschlossen oder geht verloren. In Berg Fidel nehmen wir jedes Kind aus dem Wohngebiet auf. Hier bleiben alle auf unserer Schule, kein Schüler geht auf eine Sonderschule.

Was sind das für Kinder, die Ihre Schule besuchen? Wie ist das Wohnumfeld?
60 Prozent der Familien stammen aus dem Ausland. Ich finde das sehr bereichernd. Ich habe immer das Gefühl, in 30 Ländern gleichzeitig zu Besuch zu sein. Die Schule ist die einzige im Stadtteil. Dadurch, dass wir jedes Kind aufnehmen, ist es hier tatsächlich friedlicher geworden. Keiner fühlt sich an den Rand gedrängt.

In die Förderschulen gehen Kinder, die als lernbehindert gelten. Sie setzen dem das Konzept der Inklusion entgegen. Warum?
Um Frieden zu schaffen. Wenn sich jede Familie durch die Schule angenommen fühlt, gibt es keine Konflikte, die nicht lösbar wären. Wenn die Kinder jedoch aus ihrem Umfeld herausgerissen werden, verlieren sie leicht den Draht zu ihren ehemaligen Kindergartenfreunden. Dann kommen sie nachmittags in den Stadtteil zurück und klauen den anderen die Jacken.

Was machen Sie und ihr Kollegium konkret anders im Unterricht?
Wir richten uns nach den Kindern, wie es unsere Aufgabe als gute Lehrer ist. Sie bestimmen das Lerntempo, nicht die Lehrpläne! Den Stress tun wir niemandem an. Es würde gegen die lernpsychologischen Gesetze verstoßen, wenn wir den Kindern zu schwere oder auch zu leichte Aufgaben geben würden. Am leichtesten ist das zu verwirklichen, wenn man in jeder Klasse alle Jahrgänge von eins bis vier mischt.

Worin bestehen bei der praktischen Umsetzung die Schwierigkeiten?
Ein inklusiver Unterricht muss sich immer wehren gegen die Auslese, die durch das System Schule leicht gemacht wird. Man kann ja so einfach ein Kind für lernschwach erklären und es trotzdem ständig überfordern. Dann folgt oft das Sitzenbleiben, und der Abstieg beginnt bereits in der Grundschule. Fast ein Viertel der 15-jährigen Schüler in Deutschland kann kaum lesen! Diese Kinder wurden abgeschult, verloren das Vertrauen, wurden hin- und hergeschoben, in der Regel übernahm dafür keiner die Verantwortung. Das ist die Folge von Aussonderungen, die als völlig normal angesehen werden. Wenn man sich dagegen wehrt, lebt man entspannter, die Kinder lernen besser, aber man muss mit Angriffen rechnen.

Was sagen die Kinder, was die Eltern zum Konzept der Inklusion?
Sie gestehen uns zu, dass wir Fehler machen und daraus lernen - wie kann humanes Lernen besser beschrieben werden? Das ist leider noch nicht weit verbreitet in unseren Schulen. Ein einziger Fehler kann einem die Schullaufbahn versauen.

Wie kriegt man skeptische Eltern mit ins Boot, die vielleicht denken: Hilfe, mein Kind soll mit Behinderten in eine Klasse gehen?
Von Behinderten haben wir noch gar nicht gesprochen. Brauchen wir auch nicht, es sei, denn wir sprechen von den zusätzlichen Pädagogenstellen, die die sogenannten Behinderten mit in die Schule bringen. Sind wir nicht alle irgendwie auf die Hilfe anderer angewiesen? Was ist da anders mit Behinderten? Jedes Kind lernt von und mit den anderen. Das ist unser Verständnis eines inklusiven, kooperativen Unterrichts.

Wie hat die Öffentlichkeit, wie das Kinopublikum auf den Film über Ihre Schule reagiert?
Überwältigend. In der ersten Woche wurde der Dokumentarfilm über unsere Kinder allein in Münster von 1500 Menschen gesehen. In der Kinorangliste der meist gesehenen Filme war das Platz 2. Ich glaube, wir sehnen uns alle danach, eine mutige humane Schule für unsere Kinder zu finden, wo sie sein dürfen wie sie nun mal sind.

www.ggs-bergfidel.de; Buchtipp: Reinhard Stähling/Barbara Wenders: Das können wir hier nicht leisten - Wie Grundschulen doch die Inklusion schaffen können. Ein Praxisbuch zum Umbau des Unterrichts. Schneider Verlag, Baltmannsweiler 2012, 19,80 €.
Informationen zum Film unter www.bergfidel.wfilm.de

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.