Wege zum Mond
Heute wäre der berückende Spieler Ulrich Mühe 60 geworden
Diesem zynisch-heiteren Dichter Heiner Müller ist so vieles zu danken. Immer wieder auch dieser Satz: »Ein x-beliebiger Schauspieler zeigt auf den Mond und sagt: Das ist der Mond! - Mühe kann die Entfernung zum Mond spielen.«
Ulrich Mühe folgte Müller, ging Müller voraus, auch wenn er Lessing oder Kane oder Grillparzer spielte: Die größte Botschaft liegt im Schmerz, der nichts Beschönigendes mitbringt und der deshalb für keine positivistische Lüge, Utopie genannt, in aktuellen Dienst zu stellen ist. Dieser Schauspieler hat sich in keiner Rolle die Wahrheit erspart, dass Erkenntnis und Einsicht eine unerträgliche Folter für die Seele sind - die doch nicht vernünftig, sondern natürlich sein will. Mühe trieb sein Können an eine Grenze, wo Können aussetzt und also jene Not des Menschen beginnt, die man Erfahrung nennt.
Erinnerung, unauslöschlich: draußen Regen, drinnen aber Menschen auf dem Trockenen. Schwüle. Und er: Ulrich Mühe. So, als hätte ihm ein Stiefel das Gemüt weich gedrückt. Ein zuckendes Bündel, das mit Schweißtropfen um sich schleudert, dem Adern auf die Stirn treten und dem die Augen zu Höhlen werden. Ein Sterbender, und dies Sterben gezeigt wie einsamste Arbeit: Mühe als Osvald in Henrik Ibsens »Gespenstern«. Als seine Mutter: Inge Keller - ab Mitte der achtziger Jahre für lange Zeit eine der fesselndsten Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin, Regie: Thomas Langhoff. Sternstunden.
Für den jungen, noch unbekannten Schauspieler, den Heiner Müller gerade erst als Banquo für seinen »Macbeth« an der Volksbühne aus Karl-Marx-Stadt geholt hatte, waren diese »Gespenster« der sofortige Schritt ins Olympische. Für diesen Baufacharbeiter aus Grimma mit der schmalen, aber zähen Kraft für extreme Haltungen - und Gestalten. Im Film Hölderlin, Goebbels, Thomas Manns »Kleiner Herr Friedemann«. Auf dem Theater eine starke Präsenz, gezaubert aus scheinbarem, listigem Zurückweichen. Wenn er spielte, mit großen Augen und einem Körper, der sich gern ins abenteuerlich Ungerade bog und zog, dann fuhren gleichsam Wirbel der Abgründigkeit bohrend unter die besagte Vernunft, sprengten sie aus ihren geschickt gesetzten Verschalungen.
Dieser Darsteller suchte Offenbarung durch Blöße, und die erregendste Blöße, die bei ihm nie den Glanz der Scham verlor - er fand sie vor allem im unbarmherzigen Werk von Heiner Müller, dem Freund. An dessen Grab er Benn rezitierte. Dessen »Hamlet/ Hamletmaschine« er zum verzweifelt anschwellenden Abgesang auf das Botschaftstheater am Ende der DDR erhoben hatte.
Botschaften noch im Herbst 1989? Wo doch im Sommer die Prager Botschaft zur Bühne einer ganz anderen Wahrheit erhoben worden war: Endlich Schluss mit dem Theater! Mühe gehörte zu den Initiatoren des 4. November auf dem Alexanderplatz, und im erwähnten Stück Müllers, vom Dichter selber inszeniert, steht Hauptdarsteller Mühe vor einer Tafel und streicht den Text durch, es ist eine Bekräftigung: »Ich spiele keine Rolle mehr.« Ende einer künstlerischen Auftragslage, die mit Gesinnung zu tun hatte, gleichsam mit Fürstenerziehung in Richtung (führendes oder geführtes?) Volk.
Er ging dem Theater verloren, als die DDR verloren ging. »Wir hatten so viele Jahre kluggeschissen von da oben, und sie haben uns dafür geliebt«, jetzt gingen die Leute nicht nur aufrecht, jetzt gingen sie vor allem weg. Mühe ging mit der Zeit: Auch er ging weg, verließ das Deutsche Theater, hatte einen Mut zur Freiheit, den manche nicht verstanden damals. Aber er wollte keine Sicherheit mehr, und er mochte keine Willkür mehr, auch nicht jene Willkür, die ihn zum Privilegierten bis hin nach Salzburg erhoben hatte.
Zunächst spielte er an Wiens Burg, sein Regisseur Claus Peymann nannte ihn so spöttisch wie genervt den »Kommunisten«. Da war sie also immer noch, die alte junge Schule eines Theaters, das sich fremd fühlte, wenn es nicht diskutierte, wenn es mit seinem Publikum keine wirklich spürbare Beziehung eingehen konnte. Auswechselbare Zuschauer, lauter Unangreifbare? Nicht sein Feld.
So wurde aus dem großartigen Schauspielkünstler der Bühne ein gefragter Filmschauspieler: in Helmut Dietls »Schtonk«, in Michael Hanekes »Benny›s Video‹« und »Funny Games«, in Costa-Gavras' »Stellvertreter«. Vorher hatte er schon die Hauptrolle in Bernhard Wickis Joseph-Roth-Verfilmung »Das Spinnennetz« gespielt: von beklemmender Wahrhaftigkeit sein Porträt eines biegsamen politischen Hänflings - in einem Aufstieg, der ihn zum Ab-Fall macht; so jämmerlich, so schlotternd. Und hinterm hässlich Bleichen doch sichtbar: der Leidensschatz eines - Menschen.
Und in »Das Leben der Anderen« (ein verdienter Oscar!) gibt Mühe das berührende, aufwühlende Porträt eines Stasi-Spitzels. Dieser - so elendig geistlos und selber geknechtet - Schicksal spielende Lausch-Angreifer, der vom eigenen System zahnscharf zermalmt wird. Aber dies ist die Gefahr für jede Macht: dass ein Mensch plötzlich sensibel wird, vielleicht, weil er am falschen Ort (der perversen Observation) auf die richtigen, herzöffnenden Impulse trifft. Mühe spielt einen Menschen, der nach dem großen Scheitern der politischen Idee vielleicht nie wieder glücklich wird - aber endlich befreit ist.
Noch mal: Heiner Müller. Oft genug hat schauspielerischer Gestaltungswille dessen Texte eher belastet, als sie aus ihrer steinschweren Chiffriertheit zu befreien. Stärkste Müller-Lesungen veranstaltete deshalb - Müller selbst. Mit tonlosem Desinteresse an jeglicher Interpretation legte er eisig glühende Kerne seiner Dichtung frei. Er wollte ihr nicht beikommen, er ließ sie, wie beim Schreiben, über sich ergehen. Aber Ulrich Mühe las Müller noch besser! So, als verlängere man Geschichte, indem man tausend Spiegel hinter sie stellt. Spiegelscherben. Wie zersprungenes Bewusstsein.
Die Stimme: das Disharmonische in gespenstisch klar knirschendem Klingen. Vibrierende Vokale. Überhaupt: Wenn sich Mühes Stimme in Mühes Spiel in Höhen schraubte, so ging es doch in Wahrheit, im Sturzflug, in Seelenirres hinab. Was er mit dem Körper sprach, war Kunst-Zeichen und instinktiver Urton zugleich.
In Wien sah ich ihn in Monologen des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Hieß das Müller-Programm »Einen Dichter denken - laut«, so assoziierte dieser Abend: einen Denker dichten - leise. Mühe in seinem Zentrum: Spiel als Forschung, ob Denken Nerven hat oder Muskeln. Es hat beides.
Mühe, das war wie das dünne Brett über dem Abgrund, das den Übergang aushält, nicht aber ein Verweilen. Diesen Feinnervigen sehen, den Zarten, kühl Brennenden, den Egmont und Philotas, den Clavigo und Peer Gynt - und dann den TV-Krimi-Protagonisten in »Der letzte Zeuge«? Ja. Größe überlebt souverän noch die geringsten Anlässe.
Ulrich Mühe, geboren 1953 in Grimma, gestorben 2007, wäre heute sechzig geworden.
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