Angewandte Anthropologie
Kim Smith lebt seit sieben Jahren auf den Sofas fremder Leute
Wo Kim Smith aufkreuzt, da richten sich alle Augen auf sie. Auf ihre wilde Mähne, die einen Kamm sicher noch nie gesehen hat. Auf die Sommersprossen darunter und das breite Grinsen, das ihr Gesicht anscheinend nie verlässt. Die junge Frau im pinkfarbenen Top mit tiefem Dekolleté schwingt einen Jutebeutel in knalligem Orange auf den kleinen Cafétisch. Unter dem Lockenkopf grüßt eine rauchige Stimme gedehnt: »Hi! How are you?«
Kim kommt aus Kalifornien. Dort war sie aber schon seit über drei Jahren nicht mehr. Sie lebt mal in Palästina, Belgrad oder Pristina, am liebsten und immer wieder aber in Berlin. Bevorzugter Niederlassungsort allgemein: die Sofas fremder Leute. Meistens findet sie die über die Internetplattform Couchsurfing, wo Menschen Gratis-Schlafplätze anbieten.
Gerade ist Kim auf dem Weg zum nächsten Gastgeber. Puneet, den Inder, kennt sie schon von ihrem letzten Aufenthalt. Er macht gerade seinen Doktor, arbeitet von Zuhause, sie kann dort kommen und gehen, wie es gerade passt. Bei anderen »Hosts« muss sie die Wohnung verlassen, wenn die zur Arbeit müssen. »Ich tauche dann ab in die Stadt.« Kim hat Anthropologie studiert, ihren Lebensstil bezeichnet sie schmunzelnd als »angewandte Wissenschaft«. Auf Couchsurfing findet sie nicht nur einen Platz zum Übernachten, sie plant ihren kompletten Tagesablauf darüber. In fast jeder größeren Stadt existieren mittlerweile Gruppen, die Kochabende, Kurse oder Sprachpartys organisieren. Langeweile? Ist nicht, sagt Kim.
Zu Beginn von Kims Reisen gab es Couchsurfing aber noch nicht. Alles begann mit einem Ticket nach Kairo - ohne Rückflug. »Meine Mutter fragte mich, was ich zum Studienabschluss wollte«, erzählt die damals 23-Jährige. Ihre Antwort war spontan. Ob ihre Mutter die Reise auch verschenkt hätte, wenn sie die Konsequenzen geahnt hätte, steht auf einem anderen Blatt. Fakt ist: Wenn sie heute ihre Tochter treffen will, muss sie Ozeane überqueren.
Ägypten folgten Frankreich, Marokko und Serbien, dazwischen immer ein paar Monate in der Heimat. Bis Israel den Gazastreifen attackierte, wieder einmal. »Ich habe es nicht ausgehalten, wie die US-Medien darüber berichteten«, sagt die 30-Jährige. Mit einem Mal sah sie nur noch Ignoranz und Apathie bei ihren Landsleuten. Wütend flog sie in das Krisengebiet, um in einem Flüchtlingslager zu arbeiten. Wütend ist sie bis heute. Den Boden der USA hat sie seitdem nicht wieder betreten. Zurückzugehen ist für Kim nur die »allerletzte Notlösung«. »Die Tacos von Taco Bell - das ist eigentlich das einzige, was ich vermisse«, erklärt sie entschieden.
Längst hat Kim in mehreren Städten feste Freundeskreise und Lieblingsrestaurants. In Berlin holt sie ihr bester Freund jedes Mal mit ihrem Stammbier vom Flughafen ab. Mindestens einen Monat bleibt sie jeweils an einem Ort. »Eigentlich reise ich hauptsächlich um die Visabestimmungen herum«, lacht sie. Als sie den Schengen-Raum zum ersten Mal verlassen musste, zog sie nach Istanbul. »Weil ich türkische Jungs toll finde«, sagt Kim feixend. Mitkommt, was in den Rucksack passt. Ein paar T-Shirts und Pullover - und im Winter greift das Zwiebelprinzip: »Klamotten trage ich so lange, bis sie auseinanderfallen.« Ihr einziger Luxus: Nagellack. »Davon schleppe ich zwei Kilo mit mir herum.« In Scharlachrot und Barbiepink klimpern die kleinen Glasfläschchen in ihrer Tasche. Von ihnen kann sie sich nicht trennen, auch nicht von denen, die schon fast leer sind. Zu Weihnachten schickt ihre Mutter jedes Jahr ein Tagebuch. »Da schreibe ich aber nie rein, leider.« Stattdessen sammelt sie Handy-Sim-Karten aus den Ländern, die sie besucht hat. Sie sind Andenken und gleichzeitig praktisch, wenn sie das nächste Mal dorthin kommt.
Finanziert hat Kim ihre Reiselust mit Gelegenheitsjobs und einer Arbeitsunfähigkeitsrente. Eingebracht hat ihr die eine mit Drogen durchzechte Nacht und ein psychologisches Gutachten am Morgen danach, gleich am Anfang ihres Studiums in Berkeley. Knapp 500 Euro flossen seitdem monatlich auf ihr Konto. Die Rente ist vor kurzem ausgelaufen, Zweifel waren aber schon vorher da: »Ich couchsurfe jetzt bei Leuten, die etliche Jahre jünger als ich sind.« Zum ersten Mal verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Die haben tolle Berufe, machen so viele interessante Sachen - das habe ich mir für mich auch immer so vorgestellt.« Zehn Sprachen und 15 bereiste Länder füllen nicht die Lücke im Lebenslauf, fürchtet Kim.
Ihr hartes Fazit nach sieben Jahren unterwegs: »Die Straße ist an ein Ende gekommen.« Das hat vielleicht auch etwas Gutes. Bei aller Freiheit sei das ewige Couchsurfen ein Leben auf niedrigstem Niveau: beim Essen, bei Kleidern, bei Beziehungen. Ganz ohne Spuren bleibt das nicht. Kim hat das Gefühl, dass sie sich einen »normalen« Alltag nach ihrem Lebensstil der letzten Jahre erst verdienen muss. Dessen Selbstverständlichkeiten würde sie aber gerne wiederfinden. Und vielleicht endlich die Liebe. Da ist es dann wieder, das Reibeisenlachen: »Falls jemand gern heiraten würde - I´d love to live in Germany!«
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