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In schlechter Verfassung

Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert: Die Gute Gesellschaft

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie sollte eine gute Wirtschaft als entscheidende Bedingung einer »Guten Gesellschaft« aussehen? Wie können Gerechtigkeit, Freiheit und nicht zuletzt Nachhaltigkeit erreicht und garantiert werden? Das sind die Kernfragen, um die es in diesem Buch geht, zu dem der gestandene sozialdemokratische Politiker und Vordenker Erhard Eppler das Vorwort schrieb.

21 Autoren, ältere wie junge, deutscher wie ausländischer Herkunft, äußern sich kritisch und mit hoher Sachkenntnis zu Überlebensfragen des herrschenden Gesellschaftsmodells und tasten nach einem Gegenentwurf, der der Hoffnung, eine andere Welt sei möglich, konkrete Gestalt gibt.

Im ersten Kapitel (Geschichte und Werte) umreißt die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles den Kern einer »Guten Gesellschaft«, die öffentliche Güter wie Sicherheit, Frieden und Zufriedenheit bereitzustellen sowie Einzelinteressen unter das Allgemeininteresse unterzuordnen habe. Was die »Herrschaft des Volkes« bedrohe, muss »mit allen demokratischen Mitteln bekämpft und zur Not zerschlagen werden«. Dies beträfe auch systemrelevante Finanzkonzerne oder Finanzmärkte. Ohne Altkanzler Gerhard Schröder und dessen Agenda-Politik zu erwähnen, argumentiert Nahles gegen die Behauptung, der Sozialstaat sei zu teuer. Dies sei nicht nur falsch, sondern resultiere auch »aus einer schlechten Gesinnung«.

Stefan Berger zeichnet die »Erfolgsbilanz« sozialdemokratischen Wirkens seit 150 Jahren nach und Gesine Schwan fabuliert über die Rolle von Bildung. Dem Gerechtigkeitsbegriff widmet sich Alexander Petring. Hans J. Misselwitz stellt zutreffende Fragen zum Werteverständnis und dem Gewicht von sozialer Gerechtigkeit in Deutschland heute.

Im zweiten Teil (Politik und Ökonomie) befassen sich Thorben Albrecht und Benjamin Mikfeld sehr akademisch mit Diskursallianzen zum Topos »bessere Gesellschaft«. Christian Kroll fragt, warum die Sozialdemokratie die Deutungshoheit verlor, die sie aus seiner Sicht mit dem Begriff der »Lebensqualität« wieder zurückerobern könnte. Unbeachtet lässt der Autor sowohl die Rolle des vom kapitalistischen Markt geprägten Bedürfnishorizonts wie die Macht der privat-kapitalistischen Medien. Deutlicher wird da Colin Crouch, der die Rolle der Zivilgesellschaft gegen die Konzernmacht diskutiert; letztere verfüge über ein Drohpotenzial, mit dem Parlamente und Minister beeinflusst wie auch die öffentliche Meinung beherrscht werden können.

Der Band versucht zu erkunden, wie die Kräfte und Parteien der sozialen Demokratie ihr verloren gegangenes Selbstbewusstsein zurückgewinnen und zu einer neuen, dem 21. Jahrhundert entsprechenden Vision finden könnten. Es geht den Autoren um »eine Synthese aus praktischem Denken und idealistischen Streben«, wie Willy Brandt formulierte. Das gelingt in diesem Band vor allem deshalb nicht überzeugend, weil einige substanzielle Voraussetzungen (gerade auch Erfahrungen des frühsozialistischen Gesellschaftsversuchs) nicht erkannt oder bewusst ignoriert werden. Man begnügt sich mit einem Satz über das Scheitern der staatlich dominierten Sowjetwirtschaft. Nur bei zwei Autoren findet die Rolle des Systemwettstreits für die Bereitschaft des »rheinischen Kapitalismus« zum Klassenkompromiss beiläufige Erwähnung.

So gelangen die Autoren trotz Eingeständnisses des grandiosen Scheiterns sozialdemokratischer Politik nicht über den Aufruf zur Zähmung der Märkte und zur Gestaltung eines »guten Kapitalismus« hinaus. Jeder Eingriff in das Eigentum und die Verfügungsgewalt der Wirtschaftsmächtigen ist tabu, womit alle Eingrenzungsvorschläge im nationalen wie EU-Rahmen illusorisch bleiben müssen. Keiner der Autoren erörtert, dass die beschworene »Gleichheit« der Bürger letztlich auf der gleichen Stellung aller zu den entscheidenden Produktionsmitteln basiert. Die hier scharf kritisierte soziale, kulturelle und Chancenungleichheit ist jedoch nicht durch Herumdoktern zu überwinden.

Waren bis hierher alle Beiträge anregend, so ist der im dritten Teil (Herausforderungen und Zukunft) zu findende Beitrag von Jenny Anderson besonders interessant. Die in Paris arbeitende Schwedin konstatiert, dass die ab Mitte der 1990er Jahre erfolgte Neuausrichtung der Sozialdemokratie sich verheerend ausgewirkte, ungewollt einen neuen, gefährlicheren Neofaschismus hervorbrachte. Die Tiefe der sozialdemokratischen Krise, so Anderson, erfordere »heute einen radikalen Bruch mit den vergangenen Jahrzehnten sozialdemokratischer Politik«, eine »Rückkehr zu den Wurzeln, die jedoch nicht nostalgisch, sondern utopisch ausfallen muss«.

Da jedoch in den Führungsgremien der Sozialdemokratie die Bereitschaft für einen solchen »radikalen Bruch« nicht erkennbar ist, sind alle guten Vorschläge in den Sand geschrieben. Das »Zittern«, das der Theoretiker des demokratischen Sozialismus Thomas Meyer im Rumpf des »Tankers SPD« zu spüren meint, dürfte nur das ängstliche Schlottern vor der nächsten Wahlniederlage sein.

Christian Kellermann/ Henning Meyer (Hg.): Die Gute Gesellschaft. Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert. Edition Suhrkamp, Berlin. 317 S., br., 15 €.

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