Lebenslust in Seitenstraßen
Heute wird die Schauspielerin Ursula Werner 70
Sie unter Palmen, beim mondänen Festival in Cannes. Sie, die spielend eine so ganz andere Art des landläufig Extravaganten und Graziösen verkörpert: Ursula Werner, Hauptdarstellerin in Andreas Dresens »Wolke 9« - jenem Film, der 2008 beim Filmfest an der Cote d›Azur begeisterte. Die Werner als späte Heißliebende, eine Frau der erlösenden, erschütternden Aufwallung in unerwarteter Lebenslust und Begehrenskraft. Existenz als Welle, die dich hinreißt und fortreißt und aufreißt: Es ist nie zu spät, dass sich die verhärteten Muskeln liebender Erwartung plötzlich wieder lösen, ins Offene ...
Die Kunst der Ursula Werner kommt aus Seitenstraßen des Lebens, wo die Kneipen und die Kinderwagen stehen, wo nichts nach großer Welt und großer Literatur aussieht, wo man wissen möchte, woran man miteinander ist - und so manche Gestalt dieser Spielerin macht(e) den Eindruck, dass sie kräftig, burschikos, mit aktivem Selbstbewusstsein und schmirgeligen Händen just dort ein Zuhause findet, wo das Leben zuschlägt (auch gegen sie). Und dass sie just dort sehr traurig, hilflos, durchschmerzt ist, wo das Leben dem Menschen fälschlicherweise einreden möchte (auch ihr), es sei ein Spaziergang. Ursula Werner ist eine der Liebenswerten, die auf Leben immer wieder hereinfallen. Aber was haben wir denn sonst, außer diesem Glücksunglück oder Unglücksglück?
Vor über dreißig Jahren: Halle an der Saale. Es war die Zeit eines besonderen Volkstheaters. Eine Zeit künstlerischer Entwürfe, von denen gemeint wurde, sie seien morgen schon lebbar. Was im Lande mehr und mehr zur trockenen politischen Verlautbarung wurde und die Verhältnisse bereits einzufrieren begann - es hatte am Hallenser Theater eine impulsgebende Chance. Denn jene parteiprogrammatische Hoffnung auf eine Annäherung von Utopie und Realität, auf eine Begegnung von Füllhorn und Trabant sozusagen - wenn diese Hoffnungsarbeit auf der Bühne in bestimmte Gesichter eingeschrieben war, denen man glaubte, dann geschah Seltsames: Was draußen im propagandistischen Hellen manchen frühzeitig müde werden ließ - im Dunklen eines lebendigen Theaters erwärmte es.
»Himmelfahrt zur Erde« hieß Anfang der Siebziger in Halle mottostark ein Stück Armin Stolpers, die Dramatisierung einer sowjetischen Novelle, und die Werner spielte das Mädchen Marusja. Eine total Verdorfte am Ende der Welt, das Kopftuch als Horizontbegrenzung; eine kleine Kittel- und Brillen-Existenz, die aber in einem wunderbar komisch-traurigen Liebes-Erdbeben zum Erwachen kommt. Und unaufhaltsam zur Frau voller Gerechtigkeitsenergie wird - »eine frühe Form der heutigen Personalrätin«, erinnerte sich Stolper 1991 (Uschi Werner war da Personalrätin am Berliner Maxim Gorki Theater, nach Halle ihre zweite große Bühne).
Marusja. So viel Zuversicht und Frische für den Aufbau der Dinge! Jahre, Jahre später ist sie in Einar Schleefs »Abschlussfeier« (Armin Petras inszenierte in Dessau und am Maxim Gorki Theater Berlin) eine sozialistische Jugendherbergsleiterin. Die Werner bestechend als verhemmte, aber mehr und mehr ins aufgedrehte Selbstreferat hochfahrende Leiterin. Ein großer Monolog: Trompetenstöße der Staatstreue, umlegt gleichsam mit Trommelwirbeln, die Mut machen für den Slalom zwischen fleckfreier Repräsentation nach außen und ermüdender Übermalung innerer Konflikte. Eine zähe sozialistische Fassadenmalerin nur noch, die sich im Berufsoptimismus aufreibt, um wirkliche Reibungen nicht zu offenbaren. Die Werner zeigte geradezu rührend, wie diese Reibungen das Gemüt zerledern.
Das Gesicht, die Ausstrahlung der Werner: geschaffen fürs berührende Weinen wie fürs unnachahmlich direkte Lachen. Wichtige Rollen in Halle spielte sie an der Seite von Kurt Böwe (»Zeitgenossen«, »Faust«, »Nachtasyl«) und oft unter der Regie von Horst Schönemann. Der auch Ulrich Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.« als Sensation uraufführte; neben Reinhard Straube als Edgar Wibeau gab Ursula Werner jene Kindergärtnerin Charlie: burschikos, lieblich, keck.
Die Hallenser Zeit, mit Martin Trettau und Jürgen Reuter, Gerd Grasse und Marie-Anne Fliegel und Roman Silberstein: Da entsprachen Menschen einander, und wir wissen, wie selten das im Grunde geschieht und wie stark von solcher Entsprechung eine unvergessliche Kunstwirkung ausgehen kann. Nichts wirklich Gutes wird erfunden ohne größeren Zusammenhang.
Sie ist Arbeiterkind, gelernte Möbeltischlerin - die am Berliner Arbeitertheater von Schönemann entdeckt wurde. Goethes Gretchen in Halle: Im Lichter vieler Gretchen, die ich später sah, blieb sie die Emanzipatorischste mitten in großer Zartheit - und deshalb die Aufwühlendste. So seelenzerreißend um ihre Liebe kämpfend, so ohnmächtig und kraftvoll zugleich; wenn sie am Ende energisch selber die eiserne Kerkertür wider Faust zuzog, dann erinnerte sie im Verzichtsschrei an eine Klarheit Kleistschen Formats: sterben, weil einem auf dieser Welt nicht zu helfen ist. So furchtbar einfach liegen manchmal die Dinge.
In Thomas Langhoffs legendärer Aufführung »Drei Schwestern« am Gorki-Theater war sie die Mascha (1979), in Katharina Thalbachs »Möwe« Jahrzehnte später die Arkadina. Zweimal Gorki-Theater, zweimal Tschechow. Von glühend junger Melancholie die eine, von verzweifelt komischer Souveränität die andere, die aufgetakelt Abgewrackte. So wenig divenhaft, mitten im Überschreiten des Zenits, war die Arkadina nie. Aber auch noch nie so süchtig danach, trotzdem weiter vorzukommen, und in dieser Sucht so grausam verletzend. Fallhöhen sind es, die Gesichter schaffen.
Heute wird die zarte und zähe Schauspielerin Ursula Werner, die so kindlich wie kratzig und kauzig sein kann, 70 Jahre alt.
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