Ganz unschülerisch

ANDRÉ MÜLLER, GERD SEMMER: Brecht-Anekdoten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.
Hat ein Dichter ein Gesamtwerk in die Welt gebracht, so hat er es wahrlich weit gebracht. Über seine Lebendigkeit entscheidet die jeweilige Dotierung dieses Werks in den Sinnbörsen wechselnder Zeiten. Über seine Unsterblichkeit aber entscheidet die Anekdote. Der Dichter erfindet das Werk, die Anekdote den Dichter. Wer oder was hält länger? Dieses seltsame Genre des Erzählens will die mitunter erhebliche Lücke schließen zwischen der poetischen und der privaten Persönlichkeit eines Autors: Etwas an ihm soll schöner und witziger sein als nur wahr. In der Anekdote wird der Mensch ein klein wenig Gott: Sein Ruf, weitergegeben in höchst geistreichen Skurrilitäten, übersteigt womöglich den Reifegrad seiner Kunstschöpfung. Wer Anekdoten zu erzählen weiß, also dabei war, ist Gottesmacher. Gottesmacher nennt man in diesem Falle: Brecht-Jünger. Oder Brecht-Schüler. Eine beflissene Gattung. Ihr Hauptberuf war die fortlaufende Produktion einer Auferstehung, ohne dass je eine Grablegung stattfinden durfte. Im Grunde eine Art höherer Grabschändung durch Gralshütung. André Müller sen. und Gerd Semmer erzählen in ihren berühmten, großartig pointierten »Geschichten vom Herrn B.«, einem Klassiker des intelligenten Anekdotenwesens, 1966 erstmals erschienen, natürlich auch von Brecht-Jüngern, vor allem aber von dem in Sachen Neugier, Klugheit und Schlitzohrigkeit ewig jungen Brecht. Von seiner Mühe, arbeitend den Menschen nützlich zu sein, und von seiner Unbedenklichkeit, sich Menschen und Situationen zunutze zu machen. Ein Meister in allen Lebenslagen. Die Anekdote als Glanz-Papier, darauf noch die Unverfrorenheit herrlich schillert - etwa wenn er der Geliebten die Blumen seiner Frau schenkt, die am Vorabend Premiere hatte. Das Buch ist ein Jahrhundert-Büchlein. Es erzählt von Wirren, Wunden und Wesen alter und neuer Zeiten; es offenbart den sturmfesten und windigen Brecht - als untrennbare Einheit. Just diese unaufdringlich komponierte Kopplung öffnet den Blick für die Wahrheit über einen Menschen, der groß und kleinlich, weise und verwaist, klug und schlau gewesen sein muss. Dem jede Farbe recht war, »Hauptsache, sie ist grau«. Der genau wusste, wann die wirklich neue sowjetische Literatur anbreche: »Wenn ein sowjetischer Roman mit dem Satz beginnt: Minsk ist die langweiligste Stadt der Erde.« Brecht: In Moralfragen ein schön Liederlicher, noch in den Niederlagen ein manchmal unschön Siegerlicher. In solcher Dialektik ist das Buch ganz unschülerisch. Der Titel lässt beziehungreich an Brechts »Geschichten vom Herrn K.« denken. K. war für Brecht Anlass, B. war für die Autoren dieses Buches Anlass. Für sehr praktische Literaturtheorie: Im Roman erfährt man alles viel ausführlicher, in Aphorismen und Anekdoten alles viel genauer. Geschichten vom Herrn B. Gesammelte Brecht-Anekdoten. Aufgeschrieben von André Müller sen. u. Gerd Sommer. Eulenspiegel Verlag. 128 S., geb., 9,90 EUR.

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