Das Eingeständnis eines Westprofessors

LESEPROBE

  • Lesedauer: 2 Min.

Nach einem Jahrzehnt intensivster Erforschung und medialer Thematisierung des Stasi-Problems, ausgiebigen Diskussionen um Diktaturenvergleich und einem Tsunami an öffentlich geförderter und meist von Westdeutschen geleiteter Detailforschung zur DDR ... fanden wir beispielsweise in Jena kaum noch Studenten, die sich mit der DDR beschäftigen wollten, besonders wenn es dabei um die Stasi ging. Sie fühlten sich mit diesem Thema überfüttert und von der denunziatorischen und triumphalistischen Art seiner Behandlung in der Öffentlichkeit angewidert, besonders wenn sich ehemalige westdeutsche Linksradikale nunmehr zu Gesinnungswächtern in Ostdeutschland aufwarfen ...

Wir hatten das Gefühl, dass in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte etwas tiefgreifend schiefgegangen sein musste ... Zwar wurden in der Forschung auch viele Facetten des Alltagslebens beleuchtet ... Aber in der medialen Repräsentation erschien der Alltag dermaßen von Mangel und Terror durchherrscht, dass viele Ostdeutsche ihre Erinnerungen damit nicht in Beziehung setzen konnten und zum wachsenden Angebot an nostalgischen Memorabilia griffen ...

Da die persönliche Vorprägung bei der erfahrungsgeschichtlichen Deutung von Zeitgeschichte und ihrer Kommunizierbarkeit mit denen, die diese Geschichte erlebt haben, eine wichtige Rolle spielen, wurde bei der Zusammensetzung unserer Forschungsgruppe viel Wert auf die Vorerfahrungen zu DDR-Zeiten gelegt. Und ich möchte noch eine traurige Anekdote hinzufügen: Da ich der Dienstälteste unter den neuen Lehrstuhlinhabern für Zeitgeschichte in Ostdeutschland war, habe ich in den 1990er Jahren einmal alle Kollegen nach Jena eingeladen. Dabei stellte sich heraus, dass alle Inhaber von Dauerstellen Westdeutsche waren - nicht etwa die Mehrheit oder viele, sondern alle. Den Einzelnen war nichts vorzuwerfen, aber strukturell hielt ich diesen Befund für eine erstrangige kulturpolitische Dummheit und darüber hinaus für eine epistemologische Verfehlung.

Aus dem Vorwort des 1993 bis 2005 an der jeneser Universität lehrenden Professors Lutz Niethammer zum soeben erschienenen Band »Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR« (Vandenhoeck & Ruprecht, 362 S., geb., 29,99 €)

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.