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Zur Dialektik passt kein Happy End
Gerd Irrlitz und Ernst Müller edierten ein unsentimentales Gedenkbuch an den Philosophen Wolfgang Heise
Dienstagabend im Berliner Brecht-Haus. Eine neue Edition wird vorgestellt. Es ist mucksmäuschenstill im voll besetzten Raum. Rosemarie Heise spricht über ihren Mann. Die Worte, sorgsam gewählt, kommen ihr zögerlich über die Lippen. Mitunter stockt sie, sortiert die Notizzettel neu und entschuldigt sich (völlig unnötig) für »meine ungeordneten Gedanken«. Nun, gewiss hat sie Tage zuvor jeden Satz gründlich erwogen und abwogen, mit den Kindern besprochen, verworfen, neu formuliert. Es ist ihr wichtig, das Wichtigste über den 1987 verstorbenen, vergessenen und verkannten DDR-Philosophen Wolfgang Heise kundzutun:
Er stand in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus, verstand sich indes nicht als »Hüter eines Erbes in staubfreien Vitrinen«, begriff Kunst und Kultur als Medium der Veränderung. Die »übermächtige Kindheitserfahrung Faschismus« hätte ihn in der DDR vielleicht zu manch »unbegründbaren Verhaltensweisen« verführt. »Er unterstützte Kritik, aber keinen undifferenzierten Widerstand.« Antichambrieren vor den Mächtigen war ihm fremd. Es ging ihm nie darum, recht zu behalten, sondern um berechtigte Einsichten. »Zur Dialektik passt kein Happy End, wusste Heise.«
Dessen Zunftkollege Gerd Irrlitz bestätigt: Heise wollte Marxismus und Klassik vereinen. Mit seiner pantheistischen Weltanschauung à la Goethe dachte er Geschichte als dramatisches Geschehen mit offenem Ausgang; keine Gesellschaft ist unvergänglich. Er lehnte historischen wie (»heute wieder massiven«) ökonomischen Determinismus ab. Das Jahr 1945 begriff er - dessen Vater die Nazis mit Berufsverbot belegten und dessen Mutter jüdischer Herkunft zu Zwangsarbeit verurteilt war (wie dann auch er selbst) - als Zäsur. Die sozialistische Entscheidung stand für ihn fest. Der Sozialismus galt ihm als enormer Versuch einer postkapitalistischen Produktionsgenossenschaft. Mit zunehmender Stagnation und autoritärer Verzerrung des Gesellschaftsprojektes nahm seine Unterstützung »kritischer sozialistischer, nicht sozialismuskritischer (!) Entwürfe« zu. Er war Fixstern intensiver intellektueller Debatten, inspirierte Schriftsteller und Künstler wie Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun, Ronald Paris. »Krawall machen« sei ihm indes nie in den Sinn gekommen. »Warum auch?«
Wolfgang Thierse, der schon beim Wort vom »undifferenzierten Widerstand« die Augenbraue hob, runzelt die Stirn und äußert Unverständnis, dass Heise - trotz solidarischer Haltung zeitlebens mit kritischen Köpfen - offene Rebelion ablehnte. »Ich empfinde das als eine Hilflosigkeit«, sagt der Bürgerrechtler und SPD-Parlamentarier. Höflich, aber bestimmt widerspricht Irrlitz:
Gewiss, manchmal habe Heise geschwiegen, aber wenn er das Wort nahm, dann entschieden. Der Emeritus von der Humboldt-Universität verweist auf einen Brief an Ideologiechef Kurt Hager, verfasst am 18. November 1976. Heise stellte darin eingangs klar: »Es geht nicht nur um Biermann, ... den ich nicht überschätze.« Sodann protestierte er energisch gegen dessen Ausbürgerung. Mit Argumenten, von denen er annehmen durfte, sie würden Gehör finden: »Sind wir so schwach?« Heise beklagte, es sei »nach innen Vertrauen zerstört« und nach außen, »abgesehen vom Festessen für die Propaganda des Westens«, politisch-moralische Glaubwürdigkeit verspielt. Man könnte glauben, »ein Konformismus polizeistaatlicher Prägung sei in unserer Republik Zwangsnorm«. Das war starker Tobak, befindet nun auch Thierse.
Die Pronomen »wir« und »unser« sind wohl Schlüsselwörter zum Verständnis von Heises Denken und Handeln. Da liest sich auch die folgende Offerte im Brief an Hager weder hilflos noch anbiedernd-verbündelnd: »Mir scheint es nötig, damit die Situation sich nicht weiter zuspitzt oder zum lähmenden Stau wird, zu einem offenen kollektiven Gespräch zu kommen - innerhalb der Partei und der Öffentlichkeit ... Ich sehe ein Zunehmen der Kluft zwischen Oben und Unten, zunehmenden Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit, öffentlichem Rollenspiel und privatem Verhalten, zwischen dem, was alle wissen, und dem, was sie sagen.« (Wie zeitgemäß dies doch noch klingt.)
Heise litt unter dem Zerbrechen der Gesellschaft zwischen Anspruch und Realität, klärt Irrlitz auf. Und vermutet, jener mochte auf eine Läuterung gehofft haben. Und/oder habe geahnt, was offener Konfrontation folgen würde: die Vereinnahmung der DDR durch den Westen. »Heise war nie furchtsam für sich«, betont Irrlitz und mutmaßt, dass Rosemarie Heise darob ihre Ehe mitunter als »herbes Glück« empfinden musste. Kaum zum Dekan der philosophischen Fakultät an der Humboldt-Universität berufen, wurde Heise wieder abgesetzt, da er dem Parteiausschluss von Robert Havemann nicht zustimmen wollte. Wolfgang Heise habe sich aber auch dann engagiert, wenn er »mit der Sache oder Person nicht ganz und gar übereinstimmte«, weiß der Mann, der über eigene Leiderfahrungen nicht spricht.
Irrlitz könnte beispielsweise darüber berichten, dass ihm, dem Hegel-Spezialisten, dereinst die Hegel-Vorlesungen entzogen wurden, obwohl oder gerade weil die Studenten en masse in diese strömten. Oder dass ihm seine unbeirrte apología für Ernst Bloch ein Parteiverfahren einbrachte. Manch Humboldt-Absolvent mag sich erinnern, wie Irrlitz sich die »wichtige Ansage« eines in seinen Vortrag platzenden studentischen Vertreters der Parteigrundorganisation verbat: »Ich halte hier eine Vorlesung, junger Mann!« Kurz darauf stürmte ein höherer Amtsträger in den Raum, knallte Irrlitz grimmig-stumm einen Zettel auf den Pult und verschwand wieder. Er hatte eine Order zur »Aussprache« hinterlassen.
Gewiss, Irrlitz genoss das einsame Privileg, nach dem - wie er es nennt - »real existierenden Anschlussprocedere« von 1990 an seiner Alma mater weiter dozieren, forschen und publizieren zu dürfen. Dafür kann man dankbar sein. Wer weiß, ob ansonsten diese Heise-Edition zustande gekommen wäre, die er als »ein Gedenkbuch ohne Sentimentalität« zur Lektüre empfiehlt. Es soll »die Wolke des Vergessens auflösen«.
Tatsächlich ist Heise vor allem im Westen, wie Verleger KD Wolf ergänzt, kaum bekannt. (Sogar bei Munzinger online findet sich kein biografischer Eintrag.) Irrlitz zur Seite stand als jüngerer Kollege Ernst Müller, für den vor allem Heises utopische Idee als spannendes Vermächtnis bleibt. Auch Irrlitz ist überzeugt, dass der Strom des Denkens, zu dem Wolfgang Heise gehörte, nur angehalten, aber nicht versiegt ist.
Gerd Irrlitz/Ernst Müller (Hg.): Wolfgang Heise. Bd. I: Schriften 1975 - 1987. 427 S. Bd. II: Aus seinem Leben und Denken. 238 S., im Schuber, 48 €. Stromfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
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