Zwischen Barbarei und Fortschritt

Ulrich Herbert hat eine opulente Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert verfasst

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Deutschland bildet das Scharnier zum Tor der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Mehrfach wurde dieses Tor von Berlin laut und brutal zugeschlagen - und wieder geöffnet. Europas Staaten und Völker wurden von deutscher Dynamik und Expansion in Mitleidenschaft gezogen, weltweite politische Erdbeben waren die Folge deutschen Drangs über die eigenen Grenzen hinaus. Doch nicht nur Barbarei und Verbrechen exportierte Deutschland, auch Fortschritt, Gedankenreichtum, wissenschaftlich-technische Innovationen.

Die Beck’sche Reihe »Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert« untersucht Nationalgeschichten des Alten Kontinents, immer mit Blick auf die vielfältigen internationalen Verknüpfungen. Der Herausgeber dieser schon sechs Bände umfassenden Edition, der Freiburger Professor für Neuere und Neueste Geschichte Ulrich Herbert, hat sich nunmehr selbst einen Band vorgenommen. Die Geschichte Deutschlands im vergangenen Jahrhundert ist sein Metier. Das von ihm jetzt vorgelegte voluminöse Buch dürfte zu einem Standardwerk avancieren.

Herbert folgt - natürlich - dem Grundaufbau aller Bände: Innerhalb der chronologischen Darstellungen gibt es jeweils fünf »Haltepunkte«, an denen gleichsam die Summe der vorangegangenen Ereignisse und Entwicklungen fixiert und der Ausgangspunkt für das nun folgende Geschehen markiert wird. Wer allein diese, dem Leser eine Atempause gönnende Artikel liest, ist beeindruckt von der umfassenden Sach- und Faktenkenntnis sowie der temperamentvollen Urteilskraft des Autors.

Mit dem »Fortschritt und seine Kosten« um 1900 startet Herbert ins 20. Jahrhundert. Er spannt einen großen Bogen, an dem Kräfte der Beharrung und des Stillstandes einerseits und die des Progresses und der Entwicklung anderseits zerren und zurren. Die zum Zerreißen drohende Spannung des Bogen wird überzeugend begründet. Das deutsche Kaiserreich unternahm innerhalb weniger Jahre eine überstürzte Aufholjagd, um mit den großen westeuropäischen Nationen gleichzuziehen und sie möglichst zu überholen. Glänzend sind historische Persönlichkeiten der Zeit charakterisiert.

Der nächste Halte- und Aussichtspunkt ist das Jahr 1926. Das »Zwischen Krieg und Krise« überschriebene Kapitel vermisst die zeitliche Mitte der Weimarer Zeit mit seinen Hoffnungen auf Überwindung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Kriegsfolgen und seziert die Instabilität der ersten deutschen Republik. Wohin das Pendel ausschlagen würde, stand in diesem Jahr noch keineswegs fest. Sechzehn Jahre später befand sich Deutschland inmitten eines mörderischen, von Hitler & Co. gewollten und angezettelten Krieg, dem zweiten weltweiten. Herbert überschreibt diese, die chronologischen Darstellung von 1933 bis 1945 unterbrechende Momentaufnahme mit »Völkermord und Volksgemeinschaft«. Beispielhaft werden die Verbrechen der 6. deutschen Armee und ihres Mordanhängsels »Sonderkommando« in Kiew angeklagt. Nicht vergessen ist das Massaker von Babij Jar, dem am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33771 jüdische Menschen zum Opfer fielen. Herbert untersucht das Phänomen einer selbst und gerade unter dem sich verstärkenden Bombenhagel der Alliierten zusammenrückenden »Volksgemeinschaft«, die dem verbrecherischen Regime weiterhin Treue leistete und blind in den Untergang folgte.

In der Nachkriegszeit lädt Herbert zweimal zum Durchatmen ein: »Zwischen den Zeiten« gewährt Einblicke in das Deutschland um 1965, in Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, aber auch aufkeimenden Zweifeln am richtigen Umgang mit der Vergangenheit im Westen Deutschlands sowie einer am Horizont auftauchenden gesellschaftlichen Modernisierung auf allen Gebieten. Seine Interpretation der Ereignisse von 1968 sucht mit ihrer zeitgeschichtlichen Wahrheit ihresgleichen in der deutschen Historiographie. Das sozialistische Experiment im Osten, Aufschwung, Krise und Zerfall der DDR werden nachgezeichnet. Sodann verweilt Herbert bei »Zweierlei Vereinigung«: die deutsche und die europäische.

Das atmosphärisch dichte Werk ist bestickt mit markanten O-Tönen aus Literatur und Gesellschaft. Er lässt seinen Ritt durch das deutsche 20. Jahrhundert mit einigen Fragezeichen ausklingen. Wer oder was beendet die Nachwehen des vergangenen Säkulums? Die Kanzlerschaft von Angela Merkel, die gesellschaftliche Dominanz des Internets, der 9. September 2001? Oder die noch nicht überwundene Wirtschafts- und Finanzkrise, auf die sowohl die Politik wie auch Wirtschaft und Wissenschaft nicht vorbereitet waren.

Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2014. 1456 S., geb., 39,95 €.

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