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Staatlich organisierter Terror
Michael Raute berichtet über Enteignung und Ermordung jüdischer Ärzte
Ich musste an Professor Mamlock denken, Hauptfigur des berühmten Dramas von Friedrich Wolf, geschrieben kurz nach Hitlers Machtantritt, als ich mich in dieses Buch hineinlas. Der Schriftseller und Arzt konnte das ganze Ausmaß des Verbrechens, das dem Judenboykott vom 1. April 1933 folgen sollte, nicht erahnen. Der Protagonist seines Stücks wird an jenem Tag am Betreten seiner Klinik gehindert und - mit dem Schild »Jude« behangen - von der SA gewaltsam fortgejagt. Die Entsolidarisierung der Kollegen und die zerschellte Hoffnung, als Koryphäe und dekorierter Kriegsteilnehmer seinem Beruf und seiner Berufung dennoch nachgehen zu können, lassen ihn zur Pistole aus dem Weltkrieg greifen und seinem Leben ein Ende setzen.
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* Michael Raute: Jude – venia entzogen. Schicksale deutsch-jüdischer Chirurgen nach 1933.
Leipziger Universitätsverlag. 175 S., geb., 24 €.
Auch von solchen Fällen der Verzweiflung und Resignation sowie plötzlichen frühen Todes durch Herzversagen aufgrund erlittener Schmach berichtet Michael Raute. In Israel dereinst Gast in einer Familie, deren Angehörige in Auschwitz ermordet worden sind, hat sich der Arzt hernach auf die Spur von Kollegen begeben, die Opfer des deutschen Antisemitismus wurden, um zugleich die Schuld jener zu benennen, die verantwortlich oder mitverantwortlich waren an Ausgrenzung, Diskriminierung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Jünger des Hippokrates.
Raute studierte die Mitgliederverzeichnisse der deutschen Gesellschaft für Chirurgie und ermittelte 233 jüdische Namen. Für das Buch wählte er exemplarisch 48 Schicksale aus - von ins Exil gejagten, enteigneten und in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten sowie in den Suizid getriebenen Ärzte jüdischer Herkunft respektive jüdischen Glaubens.
Latenten Antisemitismus gab es trotz formaler Gleichstellung der Juden im Deutschen Kaiserreich wie in der Habsburger Donaumonarchie; Raute verweist eingangs auf die Billroth-Affäre 1875 in Wien. Selbst in den 1918/19 geborenen Republiken war der Judenhetze kein Ende. Doch der staatlich organisierte Terror der Nazis stellte alles vorher Gewesene in den Schatten.
Viele jüdische Ärzte waren sozial und politisch linksorientiert, vermerkt Raute. In den Biografien, die er sensibel in die Gesamtdarstellung einfügte, überwiegen indes deutschnational gesinnte; für sie war die Enttäuschung und das Entsetzen größer als bei Kommunisten und Sozialdemokraten über das, was ihnen im »Land der Dichter und Denker« widerfuhr.
Da der Anteil jüdischer Ärzte an der deutschen Ärzteschaft beachtlich war (10,9 Prozent 1933) und diese zudem zumeist Spezialisten waren, blieb deren Ausschaltung nicht ohne gesamtgesellschaftliche Folgen und wirkte sich vor allem im Krieg fatal aus. Ein Schreiben der Berliner Ärztekammer von April 1942 konstatierte, dass von 1546 im Jahr 1938 ausgeschlossenen Juden nur 200 durch »Arier« ersetzt werden konnten. So kam es, dass alsbald »Mischlingsärzte 1. und 2. Grades« reaktiviert wurden, sogar beim Militär.
Abschließend klagt Raute die verfahrenstechnisch verkomplizierte und durch alte Nazis in medizinischen Diensten und auf Finanzämtern verschleppte oder gar verhinderte Wiedergutmachung nach 1945 an. Eine dem Band vorangestellte Zeittafel erleichtert dem Leser die Einordnung des Geschehens. Im Nachwort betont Raute die Notwendigkeit stetiger Erinnerung, auch wenn sie manchem »zum gedankenlosen, sinnentleerten Ritual« zu verkommen scheint. Der NSU beweise, »dass der braune Sumpf keineswegs gänzlich ausgetrocknet ist«. Die Schilderung von Schicksalen kann aufklärend wirken. Aber ebenso ein Stück wie »Mamlock«, das in der DDR Pflichtlektüre in der Schule war. Und heute?
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