Komplizen: die Konzerne und die SS

Susanne Willems hat eine beeindruckende Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz verfasst

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 4 Min.

Die gedruckte Literatur zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz hat seit längerem eine vierstellige Ziffer erreicht. Im Zentrum stehen die in vielen Sprachen verfassten Berichte überlebender Opfer der faschistischen Herrschaft, gefolgt von den mündlichen (vor allem aus Gerichtsprozessen herrührenden) und schriftlichen Zeugnissen der Täter, wie sie gemeinhin bezeichnet werden, jedoch treffender Mörder genannt werden müssten. Das hier anzuzeigende Buch ist mit Blick auf den 70. Jahrestag der Befreiung des Lagerkomplexes Auschwitz durch die Rote Armee entstanden. Es ist zugleich die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung seiner Autorin mit der Judenverfolgung in Deutschland und in den von Deutschland eroberten Gebieten Europas. Der Anfang dieser Arbeit fällt noch in deren Studienzeit und begann in Begleitung des westdeutschen Geschichtsprofessors Hans Mommsen.

Susanne Willems wurde in der Bundesrepublik eine der besten Kennerinnen der Materie und dessen, was Archive über ihren Forschungsgegenstand bergen. Sie erregte früh Aufsehen und Anerkennung mit ihren Korrekturen zur Biografie von Albert Speer, die dieser nach 1945 nach Kräften geschönt hatte. Das geschah insbesondere mit ihrer Monografie «Der entsiedelte Jude», in der sie die Vorschläge von Hitlers Chefarchitekten zur Vertreibung von Juden aus ihren Wohnungen schon für 1938 quellengestützt belegte. Nun kehrt sie zur Rolle des Mannes zurück, der zum Schluss auch noch Hitlers Rüstungsminister geworden ist.

Der opulente Bild-Text-Band schlägt einen zeitlichen Bogen von den frühesten Plänen der SS, in dem Baukomplex in Oswiecim, der aus den Zeiten der K. u. K. Monarchie stammte und als Kaserne gedient hatte, ein Konzentrationslager zu errichten, bis zur Befreiung des Haupt- und der Nebenlager. Susanne Willems fasste ihre Forschungsresultate und die anderer zu einem dichten und dennoch übersichtlichem Gesamtbild zusammen. Der Band endet mit einem Blick auf die heutigen musealen Anlagen.

Was der Publikation auch die Aufmerksamkeit von Spezialisten sichern wird, ist die Unterbreitung und Erläuterung eines Fundes in einem Prager Archiv: Da stieß die Forscherin auf einen Ausbauplan von Auschwitz II (Birkenau), der noch umfassendere Erweiterungsbauten vorsah als jene, die verwirklicht wurden. Die Vereinbarung darüber, zwischen Himmler, Speer und Oswald Pohl, dem Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, getroffen, wird hier teils im Faksimile dokumentiert. Susanne Willems interpretiert die Dokumente als Beweis für die Übereinkunft, das Lager für die Zwecke der Massenvernichtung von Menschen und gleichzeitig als eine Art Drehscheibe für die Versorgung der oberschlesischen Industrie mit Arbeitskräften zu nutzen. In welchem Grade und zu welchen Zwecken das in der chemischen, metallurgischen und Elektroindustrie sowie im Bergbau tatsächlich geschah, darüber würden Leser womöglich gern mehr erfahren als die Zahlenangaben über die von der SS den Unternehmen zur Ausbeutung «verliehenen» Häftlinge«.

Der großformatige Band ist eindrucksvoll illustriert. Dazu wurden Dokumente und zeitgenössische Fotografien verwendet sowie aktuelle Aufnahmen, die Frank und Fritz Schumann vor Ort machten und die sie aus insgesamt 5000 auswählten. Hier wurde von Angehörigen zwei Generationen deren Sicht auf den heutigen Zustand des einstigen Konzentrations- und Vernichtungslagers festgehalten. Ihre Bilder, durch unspektakuläre Linsen gewonnen, zeigen Häuser und Räume, in denen die Häftlinge einst zusammengepfercht hausten, Ruinen, Trümmer, Bunker und ehemalige Erschießungsplätze. Sie vermitteln einen bedrückende Vorstellung von jener Menschenfeindlichkeit, die sich mit dem Namen Auschwitz für immer verbindet.

In der anhängenden Zeittafel stößt der Leser unter der Jahreszahl 2012 auf die Erwähnung einer angesichts des damals bevorstehenden Auschwitz-Tages angestellten Untersuchung. Laut dieser konnten 23 Prozent der 18- bis 29-jährigen Deutschen »mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen« - das sind die Jahrgänge, die Schulen in »Deutschland, einig Vaterland« besucht haben.

Susanne Willems (Text) und Frank und Fritz Schumann (Fotos): Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers. Edition Ost, Berlin 2015. 255 S., geb., 29,99 €.

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