Die Prüfung einer Hundertjährigen

Endlich erhält Ingeborg Rapoport ihren Doktortitel in Medizin, den ihr die Nazis verweigert haben

Als sie 1937 an der Hamburger Uni ihre Dissertation einreichte, verwehrten die Nazis ihr die Verteidigung. Fast 80-Jahre verspätet erhält die 102-jährige Medizinerin Ingeborg Rapoport nun ihren Doktortitel.

Sie müsste jetzt schon auf der Autobahn sein. Chauffiert wird sie von »Fufu«, Tochter Susan. Ingeborg Rapoport zählt stolze 102 Jahre. Sie unternimmt eine Fahrt in die Vergangenheit. Das ist anstrengend, physisch wie psychisch. Böse Erinnerungen werden wach. Aber die Tour über dreihundert Kilometer von Berlin nach Hamburg lohnt sich. Ingeborg Rapoport wird an diesem Dienstag vom Dekan der medizinischen Fakultät der Hamburger Universität, Uwe Koch-Gromus, den Doktortitel in Medizin verliehen bekommen. Nach fast acht Dezennien.

In der Hansestadt hat Ingeborg Syllm, wie die in Kamerun als Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin Geborene mit Mädchennamen hieß, das Staatsexamen 1937 bestanden und ihre Dissertation eingereicht, deren Verteidigung ihr jedoch von den Nazis verwehrt wurde. Rudolf Degkwitz, ihren damaligen Doktorvater, beschreibt sie während unseres Gesprächs in ihrem Pankower Häuschen als eine schillernde Persönlichkeit. »Er war ein ganz früher Nazi, ist 1923 in München mitgestürmt. Als die Nazis dann an die Macht kamen, waren sie ihm offenbar zu ordinär.« Ingeborg Rapoport meint, Degkwitz habe ihr Abschlussexamen absichtlich mit »Sehr Gut« bewertet - trotzdem und weil ihr Prüfungsbogen mit einem sie als Jüdin kennzeichnenden diagonalen gelben Streifen versehen war. »Er war ein Daredevil, wie man im Amerikanischen sagt. Einer, der gern verneint, den Teufel herausfordert.« Er habe in den Vorlesungen freche Bemerkungen über die Nazis riskiert und sich gegen den wütenden Antisemitismus gewandt. Nach dem Krieg habe er sich für die Entnazifizierung der medizinischen Fakultät in Hamburg eingesetzt, »was ist ihm allerdings nicht geglückt ist«. Degkwitz wanderte in die USA aus und arbeitete dort in einem pharmazeutischen Unternehmen.

Ingeborg Rapoport ist kurz vor der Pogromnacht am 9./10. November 1938 in die USA emigriert. Vor zwei Jahren erreichte sie ein Anruf aus Hamburg. Man habe aus ihren Erinnerungen »Meine ersten drei Leben« erfahren, dass sie ihr Studium dereinst nicht mit dem Doktorgrad krönen konnte. Die Universität würde ihr gern die Möglichkeit geben, dies nachzuholen. Das war wahrlich eine Überraschung! Ingeborg Rapoport musste nicht lange überlegen, sagte Ja. Gewiss, einen weiteren Titel benötigt die international renommierte, vielfach geehrte Professorin nicht. Aber sie anerkennt den Wunsch ihrer alten Alma mater nach ... ja, nach was? Wiedergutmachung? Das falsche Wort. Millionenfache Ausgrenzung und Verfolgung, millionenfacher Mord lassen sich nicht wiedergutmachen. Bereinigung von Unrecht? Zu schwach, auch dieses Wort geht fehl. Der reichhaltige deutsche Sprachschatz erweist sich als armselig. Ingeborg Rapoport wiegt nachdenklich das schlohweiße Haupt. »Ich freue mich über die aufrichtige Geste. Ich musste zusagen, im Namen all der Opfer des Faschismus.«

Vor ein paar Tagen hat sie ihre Arbeit verteidigt. »Auf diesem Sessel saß der Dekan, dort die Vorsitzende des Prüfungsausschusses und da ein Professor der Medizinischen Fakultät«, erzählt und zeigt sie. »Sie sind extra von Hamburg nach Berlin gekommen.« Und haben Ingeborg Rapoport einem richtigem Rigorosum unterzogen? »Ja, es war eine richtige Prüfung. Darauf bestand der Justiziar. Es ging ganz korrekt zu und wurde protokollarisch festgehalten. Ich musste über meine Arbeit, meine Experimente berichten - so gut ich mich eben noch erinnern konnte.« Trotz angestrengter Suche in Schränken, Schubfächern, Regalen hat Ingeborg Rapoport ihre Arbeit nicht wiedergefunden. »Die muss irgendwo im Haus verschwunden sein. Vor ein paar Jahren hatte ich sie in der Hand und war enttäuscht, dass sie so schmal, so dünn ausgefallen ist. Ich habe sie ungelesen wieder weggelegt.«

Anderthalb Stunden währte die Disputation. »Ich war sehr aufgeregt. Es war die Prüfung meines Lebens. Ich wollte mich nicht blamieren.« Ihre Schwiegertochter, Biochemikerin, hat ihr bei der Vorbereitung geholfen, sie über den aktuellen Forschungsstand zu Lähmungserscheinungen infolge von Diphterie informiert - das Thema der alten Doktorarbeit. »Ich habe meine Dissertation der Prüfungskommission kritisch beschrieben. Die Fragestellungen mögen zwar richtig gewesen sein, aber die Methoden, die ich damals zur Untersuchung auswählte, wohl eher ungeeignet. Ich glaube, dass alle Zellen prinzipiell den Apparat besitzen, um Toxin fühlbar für den Organismus zu machen ...«

Der medizinische Laie kapituliert. Und so frage ich Ingeborg Rapoport, ob es auch eine Note gab. Und ob die Doktorandin ihre Wohnstube verlassen musste, um den Prüfern Gelegenheit zum internen Disput über die Promotionsleistung zu geben? Sie lacht. Nein, vor die eigene Tür musste sie nicht treten. Aber benotet wurde sie. Mit summa cum laude? Ingeborg Rapoport schweigt schmunzelnd. Magna cum laude?, hake ich nach. Vor der Inauguration am 9. Juni dürfe die Note nicht publik werden, entschuldigt sich Ingeborg Rapoport. Und erbarmt sich schließlich doch, befriedigt meine Neugier, nachdem ich ihr versicherte, strengstes Stillschweigen zu wahren. Nur soviel sei hier vorab verraten: Der Prüfling hat sich in den Augen der Prüfenden offenbar wacker geschlagen.

Ob sie den Ehrgeiz habe, nun auch als weltweit älteste Doktorandin ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen zu werden, möchte ich wissen. Ingeborg Rapoport hebt abwehrend beide Hände: »Nein, um Gotteswillen.« Während ich uns Tee in die zarten Porzellantassen nachgieße, bekräftigt sie, es gehe ihr nicht um Ruhm und Rummel. »Es ist eine bemerkenswerte Tat der Universität, eine politische Bekundung, für die ich sehr dankbar bin.« Im US-amerikanischen Exil hat Ingeborg Rapoport noch einmal zwei Jahre am Woman’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia studieren müssen, um als Medical Doctor (MD) anerkannt zu werden. Sie arbeitete anschließend am Johns Hopkins Children’s Hospital in Baltimore und ab 1944 am Kinderkrankenhaus in Cincinnati, wo sie Samuel »Mitja« Rapoport kennenlernte, die Liebe ihres Lebens. Der in Galizien geborene und in Wien aufgewachsene Biochemiker entdeckte 1943 das ACD-Medium, das die Haltbarkeit von Blutkonserven beträchtlich verlängerte. Für seine hunderttausendfach Soldatenleben rettende Entdeckung erhielt er das Certificate of Merit, eine der höchsten Auszeichnungen der USA.

Nach dem Sieg über Nazideutschland geriet der überzeugte Kommunist und Antirassist ins Visier des McCarthy-Ausschusses. Die Rapoports flohen mit ihren vier Kindern nach Wien, doch der Arm des militant-antikommunistischen US-Senators reichte bis an die Donau. Mitja Rapoport ging 1952 an die Humboldt-Universität Berlin und leitete das dortige Institut für Physiologische Chemie. Ingeborg Rapoport arbeitete zunächst als Kinderärztin, habilitierte und begründete die Neonatologie, die Lehre von der Physiologie Neugeborener, und baute an der Berliner Charité das Perinatalzentrum auf. Ihr Leben in der DDR sei »sehr glücklich und erfüllt« gewesen, wenn auch nicht immer leicht und nicht alles gut war, sagt die neunmalige Großmutter, die zugleich eine »elf und dreiviertel-Urgroßmutter« ist; der zwölfte Urenkel ist unterwegs.

Was würde ihr 2004 verstorbener Mann über das große mediale Interesse an ihr heute sagen? Wäre er eifersüchtig? »Nein, er war zu meinem Kummer nie eifersüchtig«, antwortet Ingeborg Rapoport. »Ehe er mich heiratete, hat er mich gefragt, ob ich mit der Reihenfolge seines Lebens einverstanden wäre: Erst kommt der Kampf gegen den Faschismus, als zweites die Wissenschaft, und erst in dritter Reihe käme ich und eine eventuelle Familie.« War sie einverstanden? »Natürlich! Aber später sind mir manchmal Bedenken gekommen, wenn es Schmerzliches einzustecken gab, ob die erste und die zweite Position nicht hätten getauscht werden können. Seine Wissenschaftlerlaufbahn wäre sicher anders verlaufen.«

Ich spüre, dass Ingeborg Rapoport unruhig wird. Schließlich platzt es aus ihr heraus: »Haben wir jetzt nicht genug für den Artikel auf Band? Erzähl’ doch mal, wie es in Moskau war, wie man dort den 70. Jahrestag des Sieges gefeiert hat?« Und so berichte ich der einst um den Globlus gereisten Wissenschaftlerin von meiner Stippvisite jüngst in die russische Hauptstadt, von der Parade, den Volksfesten, der Euphorie, dem Stolz und der Gastfreundschaft der Russen. Sie hört aufmerksam zu, fragt nach, nickt oder kommentiert das eine wie andere kritisch. Sie bedauert, in ihrem Alter nicht mehr in die weite Welt fahren und fliegen zu können. Aber der Reise nach Hamburg sieht Ingeborg Rapoport mit frohem Herzen entgegen.

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