Über sich selbst hinweg

Anna-Elisabeth Mayer taucht ins 16. Jahrhundert

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Rembrandts Gemälde »Die Anatomie des Dr. Tulp« hat wohl jeder schon mal gesehen: Im Zentrum ein Toter, es heißt, er sei ein Straßenräuber gewesen, der gehängt wurde. Dr. Nicolaes Tulp erklärt die Skelettmuskulatur des Arms. Die feierlich gekleideten Zuschauer staunen. Das Bild stammt von 1632, als Anatomie-Vorführungen öffentlich stattfinden konnten, sogar spezielle Theater dafür gebaut wurden. Schaulustige durften dabei sein, wenn sie zahlten. Sieg der Aufklärung - und doch kommt es einem ein wenig zweifelhaft vor.

Die junge österreichische Autorin Anna-Elisabeth Mayer behandelt in ihrem farbenprächtigen historischen Roman »Die Hunde von Montpellier« im Grunde diesen Konflikt. Im Mittelpunkt steht Rondelet, Arzt und Anatom, keine erfundene Figur, wie wir spätestens in der Nachbemerkung erfahren. »Rondeletus canis est« - Rondelet ist ein Hund - ist eines Morgens an seiner Tür zu lesen. Die Magd kommt schnell mit dem Eimer, die Schmähung abzuwaschen. Aber sie hängt ihm an, er sieht sie sogar in den Augen seiner Frau.

Erste Hälfte des 16. Jahrhunderts: Ärzte waren noch Naturforscher im weitesten Sinne. Rondelet beschäftigt sich mit Fischen und Pflanzen ebenso wie mit dem menschlichen Körper. Ein Universitätsgelehrter, der den Praktikern Konkurrenz macht. Schon im 13. Jahrhundert hatte es gesetzliche Regeln gegeben, Ärzte und Apotheker voneinander abzugrenzen. Auch die Aufgaben der Wundärzte und der akademischen Mediziner waren streng getrennt. Akademiker durften keine chirurgischen Eingriffe vornehmen.

Doch noch nie haben sich schöpferische Geister in enge Bahnen lenken lassen. Und Rondelet, wie ihn die Autorin beschreibt, ist dermaßen von Wissensdurst getrieben, dass er kaum an anderes denken kann. Seinen Schwager hätte er am liebsten selbst behandelt, aber der vertraute dem Wundarzt - und starb.

Viele Einzelheiten aus der Geschichte der Medizin hat Anna-Elisabeth Mayer zusammengetragen. Manches aus Rondelets Vorstellungen scheint absonderlich. Im Grunde aber geht es zu wie heute: Konkurrenz, keiner will zurückstecken, man rächt sich für Demütigung. Das betrifft nicht nur besagten Wundarzt, sondern auch das Dienstpersonal. Wem gibt der Herr den Vorzug, wer redet später über ihn schlecht im Wirtshaus?

Aber das sind Banalitäten im Vergleich zu dem, was Rondelets zarte Frau Jeanne gegen ihren Mann so hart werden lässt. Da kommen einem selber Zweifel, ob Suche nach Erkenntnis sich bei Rondelet nicht mit Fühllosigkeit paart. Wissenschaft hat diese Kehrseite. Jeannes kinderlose Schwester, die ja nun Witwe ist, ihrem Schwager, womöglich auch nicht ganz uneigennützig, Bewunderung: »Er habe in vollem Bewusstsein Grenzen überschritten … Er habe sich selbst übertreten.« - Die Forschung und ihr Preis - eine theoretische Frage wird von der Autorin radikal ins Konkret-Persönliche gekehrt. Die Antworten der Leserinnen und Leser werden unterschiedlich ausfallen. Wie auch immer, man sollte sie bedenken, um sich selbst zu erkennen.

Damals gab es zudem noch den Vorwurf der Blasphemie. Die Inquisition war freilich schon nicht mehr das, was sie in früheren Jahrhunderten war. Die ganze Zeit sieht man Rondelet beim Lesen in Gefahr. Aber 1556, erfahren wir am Schluss, wurde auf sein Betreiben und mit Erlaubnis Heinrichs II. ein Anatomietheater gebaut. Und Wikipedia sagt, dass Guillaume Rondelet, (1507-1566) sogar 1540 noch Leibarzt des Kardinals von Tournon werden konnte. Trotz alledem.

Anna-Elisabeth Mayer: Die Hunde von Montpellier. Roman. Schöffling & Co. 198 S., geb., 19,95 €.

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