SYRIZA hat von Anfang an eine rote Linie überschritten

Jannis Milios, Ökonom und ehemalige Funktionär der griechischen Linkspartei, über deren Scheitern und Alternativen, die Tsipras und Varoufakis gehabt hätten

  • Ingo Stützle
  • Lesedauer: 8 Min.

In der deutschen Linken verstehen viele nicht, warum Tsipras auf die »institutionelle Strategie« gesetzt hat, statt den innergriechischen sozialen Konflikt weiterzuführen, den die Bewegungen seit 2008 führten. Es war doch klar, dass nicht das »bessere Argument« zählt - was Varoufakis erhoffte - und politische Mehrheiten in der EU für eine Lösung im Sinne von SYRIZA nicht zu erreichen sind - was Tsipras wollte. Allein Naivität kann es aber nicht gewesen sein. Warum also der politische Kurs, der seit den Wahlen 2012 eingeschlagen wurde?

Jannis Milios: Die SYRIZA-Regierung hat vom ersten Moment an eine rote Linie überschritten. Sie glaubte, dass das Land wie vor der Krise regiert werden könnte. Sie sah also in der Rezession das zentrale Problem und betrachtete Austerität nur als eine falsche Politik, die die gesellschaftliche Nachfrage weiter dämpft. Ich glaube, dass die zugrundeliegende Analyse vollkommen falsch war und ist. Das Kapital hat keine anderen Mittel, aus eigenen Kräften aus einer Krise heraus zu kommen, als Kosten einzudämmen. Hierfür hat es zwei Möglichkeiten: die Arbeitskosten zu senken, was Austerität bedeutet; oder gleichzeitig die Kosten für Kredite und Material zu drücken. Selbst Letzteres wirkt kurzfristig rezessiv. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass die gesamte Industrie nur noch die Hälfte an Benzin-, Gas- und Energiekosten aufwendet. Was passiert mit dem Energiesektor? Er schrumpft.

Was wäre die Alternative gewesen?

Der Kapitalismus funktioniert deshalb, weil sich Kräfteverhältnisse ständig neu zusammensetzen. Die SYRIZA-Regierung hat nicht verstanden, dass sie von Beginn an nicht über die wirtschaftliche Entwicklung oder Rezession sprechen darf, wenn sie für die Lohnabhängigen Politik machen will. Stattdessen muss sie alternative Wege suchen, Güter und Dienstleitungen bereitzustellen. Das umfasst etwa ein System von Genossenschaften und ebenso, geschlossene Fabriken wieder zu eröffnen, aber auch durch ein hartes und einfaches Steuersystem Einkommen und Vermögen zugunsten der einfachen Leute umzuverteilen. Derartige Maßnahmen sollten Ziele für sich sein, kein Mittel, dem Kapital aus der Krise zu helfen. Die Schlüsselfrage ist: aus der Krise zugunsten von wem?

Aber die Frage hat SYRIZA doch gestellt!

Tsipras und sein Team haben sich nach und nach von der Partei losgelöst. Ihre erste Priorität wurde, an die Regierung zu kommen - so ab Ende 2012. Deswegen haben sie nach den EU-Parlamentswahlen 2014 als SYRIZA sich als stärkste Partei durchsetzte, eine Politik der »nationalen Einheit« verfolgt, das heißt ein »gemeinsames Interesse« von Lohnarbeit und Kapital »gesucht«, nicht den Konflikt - und das konnte nur eine Politik des »ökonomischen Wachstums unseres Landes« sein.
Ich habe mich im SYRIZA-Zentralkomitee seit Juni 2014 offen von dieser politischen Linie von SYRIZA distanziert. Als am 30. Dezember 2014 der damalige Minister Giorgos Samaras frühzeitige Nationalwahlen ansetzte, habe ich Parteichef Alexis Tsipras darüber informiert, dass ich weder an den Wahlen noch an der kommenden Tsipras-Regierung teilnehmen will.

War das ein Grund, warum du nach den Wahlen, im März 2015, als Chefökonom von SYRIZA abgesetzt wurdest?

Genau. Die Politbüro-Mehrheit hat entschlossen, dass ein neues Politbüro vom ZK gewählt werden sollte. Bei diesem Verfahren wurde ich nicht als Kandidat für das neue Politbüro vorgeschlagen.

Was sind die Bedingungen dafür, dass sich Tsipras überhaupt von der Partei lösen konnte? Welche Rolle spielte Varoufakis?

Tsipras und seine Berater »brauchten« keine Parteikontrolle, um politisch effektiver zu sein - das war eine quasioffizielle Erklärung. Bedingung dafür war der innerparteiliche »Bürgerkrieg« zwischen den verschiedenen Parteifraktionen bzw. einflussreichen Kadern, ein »Bürgerkrieg«, der nur selten ideologisch ausgetragen wurde. Es handelte sich eher um einen Kampf um Machtpositionen in der Partei und vor allem in der - zukünftigen - Regierung.
Varoufakis war kein SYRIZA-Mitglied. Er gehörte zur Umgebung von Tsipras' Büro. Er ist ein ehemaliger Berater des früheren Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, er ist »Herr 70 Prozent«: Kurz nachdem er als Finanzminister aufgestellt wurde, erklärte er, dass er mit 70 Prozent der Maßnahmen des Memorandums einverstanden sei!

Die Niederlage war also bereits 2013 absehbar? Hätte SYRIZA unter den herrschenden Machtverhältnissen in der EU und aufgrund des internen Kleinkriegs 2015 also gar nicht die Regierung bilden sollen? Was wäre die Alternative gewesen?

Es gab sicherlich eine Alternative: den Kampf gegen Neoliberalismus und die Bourgeoisie, ein »Memorandum« für die Reichen, die Reform des Staates und die Einführung von kooperativen Produktionsstrukturen, um die Demokratie zu erweitern und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Eine Politik also, die den Kampf der Lohnabhängigen fördert. Die Regierung hätte bereits im Februar ankündigen sollen, die Zahlungen an den IWF und die EZB auszusetzen und ein neues Programm einzufordern. Zeitgleich hätte sie Primärüberschüsse machen und das Fiskalproblem selbst lösen können: durch Besteuerung der Reichen. Die Forderungen der Gläubiger hätten dann im Rahmen eines anderen Programms angegangen werden können, das keine Austerität vorsieht. Als SYRIZA die Macht übernahm, waren etwa die Banken in einer sehr viel besseren Lage; seitdem haben die griechischen Haushalte über 40 Milliarden Euro abgehoben. Die Niederlage erfolgte am 20. Februar 2015, als die Regierung das erste Übereinkommen mit der Troika zeichnete. Nicht später.

Der erste Schritt auf rutschigem Boden
Eine kritische Einschätzung des Abkommens zwischen der SYRIZA-geführten Regierung in Athen und der Eurogruppe vom 20. Februar / Von Spiros Lapatsioras, Jannis Milios und Dimitris P. Sotiropoulos

Du sprichst von einer radikalen Steuerpolitik zuungunsten der Eliten und Vermögenden. Wäre die so einfach? Varoufakis ist daran gescheitert: Es gibt keine ordentliche Staats- und Finanzbürokratie, und die Vermögen befinden sich oftmals im Ausland.

Natürlich wäre es überhaupt nicht einfach! Man sollte aber zumindest versuchen, das sehr ausführliche SYRIZA-Steuerprogramm durchzusetzen. Varoufakis hat es nie auch nur versucht.

Gutes Programm, schlechte Umsetzung? Gute Parteibasis, schlechte Parteispitze? Allein das kann ja nicht das Problem sein, oder? Zumal dieser Widerspruch jede linke Parteipolitik kennzeichnet. Erschwert eine solche Problemanalyse nicht zudem eine selbstkritische Reflexion? Die einen pochen jetzt auf das richtige Programm: Lafazanis gründet die Volkseinheit (Laiki Enotita) und gibt sich aufrichtig. Varoufakis ist wieder weg und dient - wie Tsipras - als Projektionsfläche für alles, was schief gelaufen ist. Ist das nicht alles etwas zu einfach?

Du hast recht, das Problem hat viel tiefere Wurzeln. SYRIZA hatte zwei Seelen. Die eine war der Reformismus und die Staatsfixierung der traditionellen Linken - sowohl derjenigen, die aus der sowjetischen Tradition stammt, als auch derjenigen, die eine eurokommunistische Herkunft hat. Die andere Seele war der Radikalismus der globalisierungskritischen Bewegungen der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts. In der regierenden SYRIZA wurde die erste Seele viel stärker als die zweite. Leider trifft diese Feststellung auch auf die Mehrheit der Gruppen und Personen zu, die die Laiki Enotita gründeten.

SYRIZA hätte den Kampf innerhalb Griechenlands weiterführen müssen, okay. Aber letztlich zeigen die letzten Monate doch auch, dass die Bedingungen für minimale Veränderungen aufgrund der EZB-Politik und der deutschen Machtpolitik sehr schlecht sind. Was muss sich hier ändern oder bewegen? Ist eine linke Politik nur gegen die EU möglich?

Eine linke, antikapitalistische Politik ist immer möglich. Das bedeutet natürlich auch Konfrontation mit EU-Vorschriften, -Regeln und -Strukturen. Vielleicht führt eine solche Politik, wenn sie nicht von einer paneuropäischen Bewegung begleitet wird, auch zur Notwendigkeit eines Austritts aus der Eurozone oder der EU. Allerdings ist es mit Einschränkungen falsch, die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes auf die Losung des EU-Austritts zu beschränken oder zu reduzieren, was auch bloß eine nationalistische Politik zugunsten des einheimischen Kapitals bedeuten könnte.

Du hast in vielen Interviews davon gesprochen, dass sich die griechische Wirtschaft restrukturiert hat, inzwischen aber auch wieder profitable Sektoren entstanden sind - welche Veränderungen gab es konkret?

Der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist von etwa 65 Prozent im Jahr 2002 auf etwa 53 Prozent 2015 gefallen. Das heißt, den Lohnabhängigen bleibt weniger, den Unternehmern und Rentiers mehr vom gesellschaftlich produzierten Reichtum. Die Mehrheit musste alleine für die Krise bezahlen. Die ökonomischen Eliten wurden »gerettet«. Es hat aber nicht nur eine Umverteilung von Einkommen zugunsten der kapitalistischen Eliten stattgefunden. Auch eine Umverteilung von gesellschaftlicher Macht zuungunsten der Lohnarbeit ist im Gange. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes sowie der Abbau des öffentlichen Sektors durch Privatisierungen und die Senkung der sozialen Unterstützung sind die andere Seite dieser Umverteilung.

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Wird die Niederlage zu einer gesellschaftlichen Demobilisierung führen, die die Kräfteverhältnisse noch stärker zugunsten von Kapital und Eliten verschiebt?

Ich befürchte, dass du leider recht hast. Eine andere katastrophale Möglichkeit wäre, dass sich eine Massenmobilisierung gegen die Linken richtet - insbesondere, wenn nach den Wahlen am 20. September eine große Koalition entsteht.

Jannis Milios war bis März 2015 SYRIZA-Chefökonom. Das Gespräch mit dem marxistischen Ökonomen erschien zuerst in der Zeitung ak - analyse & kritik .

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