Geopolitische Positionskämpfe

In seinem neuen Essay sinniert Volker Perthes über das »Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen«

  • Heinz-Dieter Winter
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie viele andere Nahostexperten konnte sich auch Volker Perthes am Anfang dieses Jahrtausends nicht vorstellen, was aus der »neuen arabischen Welt« werde, über die er vor 15 Jahren ein optimistisches Buch geschrieben hat (vgl. Rezension im »nd« vom 24.5. 2002). Doch gab es schon vor Jahren Stimmen, die angesichts wirtschaftlicher Stagnation, sozialer Missstände, wachsender Jugendarbeitslosigkeit und insbesondere wegen der westlichen Interventionspolitik in der Region vor gefährlichen Folgen warnten.

Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik sinniert über das »Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen« oder »zu kennen meinten«. Perthes wertet die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten seit dem sogenannten Arabischen Frühling 2011 und stärker noch seit 2013/14 welthistorisch als »Ordnungszerfall«. Innerstaatliche Ordnungen zerbrechen, am deutlichsten in Syrien, Irak und Libyen. Das regionale Staatensystem scheint sich aufzulösen, Grenzen würden ihre Relevanz verlieren. Dabei befinde sich die Region erst am Beginn »einer langen Phase der Turbulenz«.

Es sei nahezu unmöglich, schreibt Perthes, Politik, Ideologien und zwischenstaatliche Beziehungen in der arabischen Welt zu verstehen, ohne die Aufteilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg in britische und französische Mandatsgebiete zu beachten. Auf der Grundlage der Vereinbarung von Sykes und Picot von 1916 wurden künstliche Grenzen gezogen, ohne Rücksicht auf tribale, ethnische und religiöse Zugehörigkeiten der dort lebenden Menschen. Die politischen Kräfte der Region würden darin bis heute das »Grand Design« fremdbestimmter Verhältnisse sehen. Der nunmehrige Zerfall der Sykes-Picot-Ordnung sei der »Megatrend«.

Nach Meinung von Perthes würden die großen auswärtigen Mächte kein Interesse mehr zeigen, aktiv eine »Neuordnung« der Region vorzunehmen. Nach den Erfahrungen mit Afghanistan, Irak und Libyen würden sie sich stattdessen auf Gefahrenabwehr und Verteidigung direkter Interessen beschränken. Perthes nennt das »defensive Geopolitik«. Ob das indes so bleibt, ist mehr als zweifelhaft. Auch von wichtigen Regionalstaaten gingen seiner Ansicht nach bislang keine Initiativen zur Stabilisierung oder Neuerrichtung der regionalen Ordnung aus. Das könnte sich mit den von Perthes beschriebenen politischen Intentionen seitens Saudi-Arabiens, Irans und der Türkei jedoch alsbald ändern.

Wichtig wäre eine Verständigung zwischen Iran und Saudi-Arabien, um die vom Autor sachkundig dargestellte Konfessionalisierung der regionalen Konflikte, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten, zu beenden oder zumindest einzuschränken. Perthes spricht von einer Art »Rückkehr der Ideologie«, in der arabischer Nationalismus kaum noch eine Rolle spiele. Es gehe den Akteuren vielmehr um die »richtige« Form des politischen Islam. Das alles sei mit geopolitischen Positionskämpfen verbunden, so Perthes treffend.

Der europäischen Politik empfiehlt der Autor Zurückhaltung. Sie sollte weder auf Regime Change noch auf Eindämmung setzen, sondern sich weiter um eine friedliche Regelung der Konflikte mit und zwischen den regionalen Akteuren bemühen. Alles, was die Konflikte anheizt - und dazu gehören auch Waffenexporte - muss unterlassen werden. Perthes betont, wie sehr die gesamtregionale Entwicklung durch die Ereignisse in Syrien beeinflusst wird. Dieser »zentrale Staat im regionalen Gefüge« funktioniere nur noch teilweise. Als Baschar al-Assad die Macht in Damaskus übernahm, hat der Autor bei jenem noch durchaus Reformwillen und Bestrebungen nach politischer Öffnung erkannt sowie dessen religiöse Toleranz gelobt; das habe jenem eine soziale Basis auch in den Mittelschichten verschafft. Heute nennt Perthes Assad einen »großen Radikalisierer«; er würde sich einem echten Waffenstillstand und einer politischen Lösung des Krieges in seinem Lande verweigern. Das sehen andere kompetente Kenner der Region, z. B. Jürgen Todenhöfer (vgl. Rezension im »nd« vom 23.11. 2013), anders.

Um einen Stabilisierungsprozess in der Region endlich ernsthaft einzuleiten, wäre es wohl unerlässlich, den Krieg in Syrien durch Waffenstillstand zu beenden. Auch um den barbarischen Feldzug des »Islamischen Staates« zu stoppen, ist ein Zusammenwirken mit der syrischen Staatsmacht notwendig. Eine politische Regelung für die Zukunft des Landes geht nicht ohne die noch existierende Staatsmacht in Damaskus, möge man auch viele Seiten des Assad-Regimes negativ beurteilen. Eine in diese Richtung gehende Empfehlung an die Adresse der deutschen und europäischen Politik fehlt in dem ansonsten lesenswerten und anregenden Essay von Volker Perthes. Mit Prognosen ist der Wissenschaftler überaus vorsichtig: »Wir wissen einfach nicht, wohin die Region und die einzelnen Länder sich entwickeln.«

Volker Perthes: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay. Edition Suhrkamp, Berlin. 146 S., br., 14 €.

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