Die Schönheit und der Schmutz

Vor vierzig Jahren wurde Pier Paolo Pasolini ermordet. Das Deutsche Theater in Berlin würdigte ihn mit einem Abend

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Über die Absurditäten von Geschichte wusste er mehr, als einem Menschen zuträglich ist. Sein Bruder Guido etwa, der bei einer katholischen Partisanengruppe kämpfte, wurde Anfang 1945 erschossen - von einer rivalisierenden titoistischen Partisanengruppe. Gegen Ideologien aller Art war der 1922 in Bologna geborene Pier Paolo Pasolini fortan immun. Seine Liebe gehörte den Verlierern jener großen Aufschwünge, die sich die Geschichte immer wieder als Verheißung auf ihre Fahnen schreibt. Parolen lügen immer.

Pasolini, der im katholischen Italien der Nachkriegszeit seine Homosexualität entdeckt hatte, verlor daraufhin seine Arbeit als Lehrer an einer Volksschule, auch die Kommunistische Partei schloss ihn aus. Mittellos wie er nun war, begann er zu schreiben, auch Drehbücher. Die Mitarbeit an Fellinis »Die Nächte der Cabiria«, ein Film von 1957 über eine immer aufs Neue misshandelte Vorstadt-Hure, deren Leiden etwas Heiliges bekommt, brachte ihn zu seinem Thema als Regisseur: der Außenseiter, von der Gesellschaft ausgestoßen, wird zum Erwählten.

»Accattone. Wer nie sein Brot mit Tränen aß« heißt 1960 sein erster eigener Spielfilm über einen jungen Zuhälter in den Vorstädten Roms, der hart sein will, aber doch auf eine erbarmungswürdige Weise weich wirkt. Das Milieu der Huren, Stricher, Diebe und Zuhälter kannte Pasolini gut. Hier hatte er seine Freunde, mit ihnen als Schauspieler drehte er nun seine Filme. »Accattone« war Weckruf für eine ganze Generation junger italienischer Intellektueller. Es galt sich nicht nur den sozialen Realitäten des Landes zu stellen, sondern auch die seelischen Verwerfungen, die langen Schatten, die die Modernisierung Italiens warf, auf eine neue Weise darzustellen.

Das hatte der Neo-Realismus von de Sica und Rossellini zwar auch getan, aber Pasolini ging noch einen Schritt weiter. Seine Filme treiben den inneren Widerspruch auf die Spitze: Zumeist mit Laien gedreht, sind sie dennoch auf eine Weise artistisch, dass sie wie gemalt wirken. Es sind Elegien, aus dem Schmutz des Lebens einer Massengesellschaft hervor getrieben. Dem sich überflüssig fühlenden orientierungslosen Einzelnen sieht man Anfang der sechziger Jahre sein Herkommen vom Lande noch an. Der Sohn von Bauern, den es in eine Betonwüste am Stadtrand von Rom verschlagen hat, tritt uns bei Pasolini als kleinkrimineller Müßiggänger entgegen, als Entwurzelter ohne Ahnung davon, welchen Sinn sein Leben in dieser Zeit haben könnte.

Bei Pasolini konkurrieren dann jene beiden großen Ideen, die Italien geprägt haben: der Katholizismus und der Kommunismus. Aus beiden fertigt er eine Art Collage, in der sich Niedrigstes und Höchstes auf eine Weise mischt, die so intensiv nach dem verborgenen Grund in diesem sinnlos vertanen Leben fragt, dass es zur Passion wird. Pasolini stiehlt der Religion das Thema und setzt es in seinen Filmen ein. Bei Ernst Jünger heißt es: »Nenne mir Dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!« Auch Pasolinis Filme leben durch jenen Schmerz, der verwandelt. »Lass deine Seele das nächste Mal zuhause, dann gibt es keinen Himmel und keine Hölle mehr für dich.« So rät in »Accattone« eine Straßenhure der anderen, aber diese vermag das nicht, sie kann sich nicht erniedrigen, ohne zu leiden. Das erhebt sie über den menschlichen Sumpf um sich herum.

Lauter Unerlöste, die den gängigen Erlösungsversprechen - gleich ob von Parteien oder Kirchen - nicht mehr glauben. Aber die Frage nach dem richtigen Leben rumort inmitten dieses Meers aus Falschheit. Ein Requiem der Unerlöstheit ist dann auch »Das 1. Evangelium - Matthäus«. Statt eines Drehbuchs drehte Pasolini nach der Bibel, und Jesus besetzte er mit einem Studenten, der ihn über eines seiner Bücher befragt hatte. Überhaupt, die Schauspieler bei Pasolini sind Menschen, mit denen er befreundet war, die er liebte. So spielte seine Mutter die Mutter von Jesus, mancher Stricher bekam bei ihm eine Rolle.

Auch das Deutsche Theater erinnerte mit einem Abend an Pasolini, den Dichter, der das Fließen zwischen Wort und Bild komponierte, der die Grenze zwischen Poesie und Gewalt verschob wie kein zweiter. Drei Schauspielerinnen lasen Texte von Pasolini. Dieser bekannte, bereits als Kind hätte er in der Dichtung den Mittelpunkt der Erde gesehen. Welch Schock für ihn, als ihm dann die gemeine und gewalttätige Welt mit all ihren Zumutungen auf den Leib rückte. Nein, nicht die Poesie regiert die Welt, aber wer ein wahrhafter Revolutionär sein will, der erobert ihr einen würdigen Platz! Sein Credo: »Ich kann nur treu bleiben der herrlichen Monotonie des Mysteriums.«

Interessant an der Dreierkonstellation auf Bühne war die dritte Sprache, die ihren Platz behauptete. Neben Italienisch und Deutsch ist es eigentlich nur ein Dialekt, aber für Pasolini von Anfang an eine rettende Insel: das Friulanisch. Der Klang dieses Dialekts war für ihn immer der Grundton seiner Existenz, der für andere unentzifferbar blieb. Drei Frauen lasen die Texte parallel: Nina Hoss, in existenzialistischem schwarzen Hosenrock, auf deutsch, sehr klar und streng. Manchmal wechselte sie auch ins Italienische, das klang dann immer noch klar und streng. Ganz anders Leda Palma, die die Text auf Friaulanisch las: mit einem Kleid, das an einen pompös ausstaffierten Harlekin erinnerte, mit Ärmeln so weit wie verirrte Röcke, die an ihren Armen hingen, warf sie sich ins folkloristisch gesteigerte Pathos. Auch das ist Italien, kontrastiert von Graziella Galvani, die den italienischen Text las, sehr kühl und modern, fast ironisch zurückgenommen. Dieses Trio umfasste das, was Pasolini bis heute so anziehend macht: seinen Sinn für das Paradox. »Ich liebe die Welt, die ich hasse«.

Liest man heute seine bei Wagenbach erschienenen Bücher, jene rücksichtslos alle ideologischen Fronten durcheinanderwirbelnden »Freibeuterschriften«, oder die im Corso Verlag erschienene Liebeserklärung an Rom (»Rom, andere Stadt«), diesen Moloch, dann ist man immer aufs neue gefangen von den Sätzen, die immer auch Sprengsätze sein wollten: aber dabei mit strengem Sinn für die Form, die für ihn allein über wahr und unwahr entscheidet. »Ich bin eine Kraft der Vergangenheit. Ich komme aus den Ruinen ...«

Mit seinen Texten ebenso wie mit seinen Filmen zog Pasolini ab Ende der sechziger Jahre immer mehr Hass von der klerikalen Rechten ebenso wie von der dogmatischen Linken auf sich. Kein Wunder bei diesen jeden Anflug von Selbstgerechtigkeit zertrümmernden Texten, die bereits mit ihren Überschriften provozierten: »Der Faschismus der Antifaschisten« oder »Der Koitus, die Abtreibung, die Schein-Toleranz der Herrschenden, der Konformismus der Progressiven«. Seine Kritik der Institutionen wurde in den siebziger Jahren für Glaubens- und Wahrheitsverwalter aller Art unerträglich.

Mit »Edipo Re« hatte er 1968 (gegen den politisierenden Trend der Zeit) einen Archetypus unserer Kultur verfilmt: die Geschichte von König Ödipus als »Bett der Gewalt« und 1969 »Medea« (mit Maria Callas). Mit seiner hochartifiziellen Versuchsanordnung »Teorema - Geometrie der Liebe« löste er beim Publikum tiefe Ratlosigkeit aus. Als er 1970 das »Dekameron« verfilmte, schien das immer noch ein Bericht von der Tagseite unserer Existenz - ganz anders dann 1975 bei »Die 120 Tage von Sodom«, diesem nächtlichen Blick in jene Schreckenskammern, in denen Menschen gequält und vernichtet werden.

Vielleicht war es dieser Film, der zum gewaltsamen Tod Pasolinis am 2. November 1975 führte: In dieser Nacht wurde er in Ostia bei Rom auf bestialische Weise ermordet. Als Täter wurde ein Stricher verurteilt, der sein Geständnis später widerrief. Pasolinis Freund und Kollege Sergio Citti erinnert sich, dass Filmmaterial von »120 Tage von Sodom« gestohlen worden war und ein Anrufer dem Regisseur anbot, es ihm am nächtlichen Strand von Ostia zu übergeben. Eine Falle? 2010 wurde der Mordprozess wieder aufgenommen, aber im März dieses Jahres wegen ungenügender Beweislage endgültig eingestellt.

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