Am Kräutertee hängend wie an einem Tropf

»Wodka-Käfer«, eine Recherche - in der Box des Deutschen Theaters

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt diesen Typ: hat noch nie im Hochgebirge sein Zelt aufgeschlagen. Erlebte daher auch nie, steil in eine tiefe Ebene hinabzusteigen. Auch fehlte ihm Gelegenheit, je an Lagerfeuern romantische Geschichten zu erzählen. Er streifte nie durch eine Taiga, sah nie die Gletscher Islands, schwitzte sich nie durch eine Wüste. Keine Meerfahrt, keine Rallye, nicht mal übermäßig viele Lieben. Wohl aber steht dieser Mensch zwischen den Häuserblocks seines Wohnviertels, vor allem abends, wenn die Lichter aufflammen und blau zucken und die Gardinen noch nicht zugezogen sind, und er schaut sinnend, phantasierend durch die Fenster, wie sich’s da drinnen wohl leben mag. Und er sagt sich: Heftige Neugierde auf die wirklichen, die wahren, die ehrlich extremen Abenteuer der Existenz - das war schon immer meine Stärke.

Die Autorin Anne Jelena Schulte hat dort geklingelt, wo vor weit über dreißig Jahren bereits die Schriftstellerin Irina Liebmann an Wohnungen um ein Gespräch gebeten hatte: Berlin-Prenzlauer Berg. So war damals ein starkes Büchlein entstanden: »Berliner Mietshaus«. Gesprächsprotokolle mit dem »Bratkartoffelgeruch des Alltags«. Der Zufall als Regisseur für ein Stück Stadt, DDR, Provinz. Und die Provinz als heitere, traurige, so triste wie tapfere Anmeldung eines Anspruchs: Auch ich gehöre zur Welt, kapiert?!

»Wodka-Käfer« heißt der knapp zweistündige Abend in der Box des Deutschen Theaters (Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Oliver Helf), der an den damaligen Ort zurückkehrt und nun, in Skizzen, Menschen des längst bürgerlich renovierten Hauses porträtiert. Theater als Soziotop einer modern veränderten wie zugleich stur althergebrachten Stadtlandschaft. Spontane Auskünfte frechen, forschen, fortwehenden, feinsinnigen, frustrierten, flatternden, festgewurzelten, ferngesteuerten, furchtlosen Lebens.

Dreizehn Hausbewohner kommen in einem fünfköpfigen Ensemble zu Wort und Wert. Und Würde und Wut. Rollenwechsel, Geschlechterwechsel - über eine Hose wird ein rotes Kleid gezogen, auf die Mannsfrisur eine Frauenperücke gesetzt, Alt spielt Jung, Jung Alt. Aus Pappkartons werden die Requisiten für den jeweils nächsten porträtierten Bewohner genommen. Da sind Alleinerziehende und Minijobber, lethargisch Brütende und beflissene Projekt-Betreiber. Eine Sperrholzwand als gelbe Hausfassade, umgeben von Gerüststangen: ewiger Aufbau, und das ist nichts weiter als Festschreibung jenes Fragmentarischen, in dem wir nie wirklich eine Heimat finden können.

Schauspielerisch - und das sagt gar nichts gegen die mit Frische, Nuancierung und Genauigkeit agierenden jungen Darsteller Olivia Gräser und Jonas Vietzke - dominieren Gabriele Heinz und Barbara Schnitzler. Die Heinz, etwa als alte Frau in einem Hinterhof-Video, den streunenden Katzen längst näher als den fremd gewordenen Menschen, das Jahrhundert im gemergelten Gesicht; dann ist sie kaktuskratziger Punk-»Exilant« aus Kreuzberg, nun also im Osten, nach Widerstand bellend, die alte Hausbesetzerromantik herbeipolternd. Gabriele Heinz knorrig, spröd-gütig, das Kantige beinahe bescheiden hintupfend, um es in unerwarteten Momenten weich zu rahmen.

Barbara Schnitzler: die Rollen wechselnd in nahezu mondäner Heiterkeit, tänzerisch beiläufig - um plötzlich als unglückliche Tierarztassistentin und Tischlerin (»ich hab so Bilder im Kopf«) in eine gesichtspressende Verzweiflung zu verfallen, traurig, mit Tattoo, am Kräutertee hängend wie an einem sinnlosen Tropf. Auch spielt sie eine Startup-Kreativberaterin - ein hilflos hektisches, aufgedreht strudelndes Möchtegern-Mädchen in bunter Marketing- und Designerwelt. Die Schauspielerin: melancholisch singend, berlinisch losbolzend, zwiespältig versonnen.

Und durch die Szene geistert noch ein Kammerjäger im Cowboylook, eine anekdotische Altlast aus Ost-Zeiten, die gleichsam eine vertikale Geschichtsschreibung betreibt: Er erzählt vom Weg der Ratten durch die Leitungsrohre; eine mahnende Wanderbewegung gegen alle Illusionen von Stabilität und gegen die Lüge einer menschengewogenen Natur. Diesem Mann - der bei fremden Leuten Schädlinge bekämpft, um sie daheim zu züchten, speziell den Wodka-Käfer - gibt Michael Gerber einen ruppigen, waschecht ungelenken, leicht alkoholisierten Schnodder.

Zu den spannendsten Szenen gehört das Gespräch mit einer süddeutschen Architektin (eigener Wohnungstrakt für die Kinder!), sie betrieb eine Bürgerinitiative zur Umwandlung der Straße in eine Spielstraße und stieß auf den geharnischten, wunderbar rotzigen Protest der Anwohner. Spielstraße? Stadt ist Lebendigkeit, Lärm, Lebensvielfalt! Der Chor skandiert: »Arschgesichter!« Lustig, das Erschrecken der Architektin - ja, denen geben wir’s!, diesem »schwäbische Zuzugsmob«! Genau! Druff! Wessis! Mit einem Mal aber trifft dich die Angst in den Augen der Frau (Olivia Gräser), sie hat doch nur etwas für Kinder tun wollen. Wie schnell ein demokratischer Wille auf eine Feindseligkeit trifft, die sich unflätig als traditionsbewusste Kiezkultur tarnt.

Der Abend hat etwas Landläufiges, er bauscht sich nicht selber auf. Er spielt mit der Wirklichkeit, bis die das Geständnis ablegt: Ja, so bin ich. Exaktheit will sich aus Sachverhalten der nächsten Umgebung schälen; Stoff kommt sozusagen in einer Muttersprache vor. Es ist Theater fürs Nachdenken darüber, dass wir gern wir selber sein, aber doch auch leben wollen. Geben sei seliger denn nehmen? Wir geben ständig - nämlich meist klein bei. Im Theater dürfen wir uns beim zirkushaften Genuss ertappen, Leuten zuzuschauen, die es nicht aufgeben, Welt auf Bewusstsein reimen zu wollen. Und wie sie dabei zerren, zappeln, Zähne zeigen. Und Zartheit. »Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen«, schrieb Henrik Ibsen. Ein Klingeln an der Haustür versetzt diese Menschen in die unerwartete Lage, ihrer Erschöpfung zu begegnen und Hauptsätze über das eigene Gemüt zu bilden. Geatmete, geseufzte, gestöhnte, gestammelte, wirr klare Sätze; Ausdruck, ungeplant, eines Aufrufs oder gar Aufschreis (Edvard Munch!), und so entstand durchaus Dichterisches.

Nächste Vorstellungen: 20., 22. Januar, 8. Februar

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