Ein bitteres Erwachen
Wolfgang Schnur führte ein Leben, in dem sich die Geschichte des DDR-Wendeherbstes spiegelt, konzentriert, auflöst: ein Nachruf
Es gibt nicht viele Personen, in deren Biografien sich die ganze Geschichte des DDR-Wendeherbstes auf diese so vertrackte und widersprüchliche Weise spiegelt, konzentriert, auflöst – Wolfgang Schnur gehörte in jedem Fall dazu.
Der Rechtsanwalt war Figur der Erneuerungsbewegung – und trug mit seiner Tätigkeit als Stasi-IM zugleich das Alte in sich. Er war Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs, der ursprünglich eine andere DDR anstrebte – und wurde dann zum Motor für den konservativen Kurswechsel, der dazu beitrug, den Traum von einem eigenständigen, dritten Weg zu begraben. Schnur stieg schnell auf – und stürzte ebenso schnell ab. Und dabei hinterließ er doch seine bis heute sichtbare Spuren: Er holte Angela Merkel in die Politik.
Bis dahin war es ein weiter Weg, einer, der nicht einfach begonnen hatte, einer, auf dem freiwillig zu gehen man sich im Rückblick selbst wohl nur schwer vorstellen kann. Waisenkind, Maurerlehre, Jurastudium – und mit gerade einmal 20 dann vom Ministerium für Staatssicherheit angesprochen. Das war 1964, Schnur unterschrieb, traf sich in konspirativen Wohnungen mit dem Geheimdienst, gab Informationen über Mandanten, Oppositionelle preis.
Verrat als Aggregatszustand
Sich selbst bezeichnete er einmal als »Verräter«, ein lange gehütetes Geheimnis, dass sein Leben zu einem »Aggregatzustand« aus selbst so aufgefasster Berufung und Beschweigen werden ließ. Seit den 1980er Jahren hatte Schnur als Vertrauensanwalt der Evangelischen Kirche Oppositionelle und Wehrdienstverweigerer vertreten. Er stand in engen Kontakt zum Vater der heutigen Kanzlerin - 1990 wurde sie Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs, dessen Vorsitzender Schnur schon Ende Oktober 1989 geworden war. Er gehörte dem Runden Tisch an, musste von dort nach Korruptionsvorwürfen jedoch wieder abtreten.
In seinem bemerkenswerten Dokumentarfilm »Aufbruch zur Macht« hat Thomas Grimm 2005 noch einmal das Momentum jener Zeit dem Vergessen entrissen, ein Momentum, das in der offiziellen Erinnerung an die Wende meist keinen Platz hat. »Wir wollten eine bessere DDR«, sagt da Sonja Süß, die damals Vizevorsitzende des Demokratischen Aufbruchs war. Doch Schnur, um den herum sich der konservative Flügel gruppierte, steuerte schon früh auf einen ganz anderen Ausgang der Geschichte hin.
Spätestens nach dem Fall der Mauer sah er sich und damit auch die Organisation als Teil des immer größer werdenden Zuges Richtung Deutsche Einheit. Edelbert Richter erinnerte sich später einmal, wie er Schnur im Scherz sagte, »wenn Du auf dieses Pferd steigst ...«. Der sah das tatsächlich als große Chance und führte den Demokratischen Aufbruch unter Helmut Kohls »Mantel der Geschichte«. Im Dezember 1989, beim Parteitag in Leipzig, war von alternativen Sozialismuskonzeptionen schon nicht mehr die Rede. Stattdessen »waren da lauter Leute eingeladen, die zu uns nicht passten«, wie es Friedrich Schorlemmer einmal sagte – Unionspolitiker aus dem Westen, die bereits unverhohlen Wahlkampf machten.
Ein Macher gegen das Momentum der Wende
Schnur sah sich als Macher. Auf einer der Gründungsversammlungen des Demokratischen Aufbruchs sagte er, nun sei die Stunde der Juristen gekommen – damals erntete er dafür noch freundliches Lachen. Nachdem sich die Marktwirtschaftler, Konservativen, Einheitsfreunde in dem ursprünglich viel breiter als Netzwerk von Bürgerrechtlern angelegten DA durchgesetzt hatte, verließen viele Linke das Projekt – Richter, Schorlemmer, auch die Publizistin Daniela Dahn, die als Mitglied der SED den Aufbruch auch vieler kritischer Sozialisten in der Staatspartei verkörperte und beim Demokratischen Aufbruch deshalb anfangs »mit Extrabeifall« bedacht wurde.
Schnur wollte DDR-Ministerpräsident werden, mehr noch: Er sah sich bereits vor der Wahl in diesem Amt. Der Demokratische Aufbruch war von ihm zum Teil der Allianz für Deutschland gemacht worden, das auf Helmut Kohl zugeschnittene Wahlbündnis, die Kandidatur mit der meisten Unterstützung aus dem Westen. Dann der Paukenschlag: Wenige Tage vor der Volkskammerwahl im März 1990 wurde seine frühere Tätigkeit für das Ministeriums für Staatssicherheit gezielt bekanntgemacht. Der Demokratische Aufbruch erhielt bei den Wahlen nur 0,8 Prozent.
Alexander Kobylinski, selbst von Schnur zu DDR-Zeiten vertretener Mandant, schrieb später einmal, ehemalige Führungsoffiziere hätten dem Runden Tisch gesteckt, was Schnurs wahre Berufung lange gewesen war. Er selbst, der sich in Grimms Film bei denen zu entschuldigen suchte, die sich von ihm politisch verraten fühlen mussten, erzählte es aus der anderen Perspektive so: »Die letzte Begegnung mit dem Führungsoffizier war eine bittere. Er musste für sich erkennen, dass er mich für immer verloren hat.«
Im Rückblick zum enttarnten IM geschrumpft
Schnur erkrankte nach seinem politischen Totalabsturz bald schwer - und bekam juristische Probleme: Ihm wurde die Anwaltszulassung wegen Mandantenverrat und »Unwürdigkeit« entzogen, er wurde wegen Beleidigung eines Richters und wegen Konkursverschleppung verurteilt. Seine Rolle im Wendeherbst schrumpfte in den meisten Rückblicken auf die des enttarnten Stasi-IM. Sein politischer Beitrag dazu, das linke, soziale, ökologische Aufbegehren in der DDR in Richtung einer national-bürgerlichen Einheitsbewegung zu lenken, geriet dagegen in den Schatten. Ein Beitrag, der so wenig zum Bild des Stasi-IM passt.
Am 4. November 1989, Hunderttausende demonstrierten auf dem Berliner Alexanderplatz für Erneuerung, ein Ende der autoritären SED-Herrschaft und für eine andere DDR, da stand auch Friedrich Schorlemmer vor der Menge: »Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt?« In der tragischen Figur Wolfgang Schnur fand diese Frage ihre Antworten: ein abgebrochener Aufbruch, ein verratener Verräter, eine Wende, die ein Ende wurde.
Am 16. Januar ist Wolfgang Schnur im Alter von 71 Jahren in Wien gestorben.
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