Le Pen wird unterlegen sein
Alfred Grosser über den französischen Wahlkampf, deutschen Masochismus sowie Identitäten
Ich finde Ihren Buchtitel sehr interessant. Wollen Sie mit dem französischen Artikel und dem deutschen Substantiv die beiden einstigen Erzfeinde »fusionieren«?
Frankreichs Erzfeind ist seit Jahrhunderten England gewesen und nicht Deutschland, denn das gibt es noch nicht einmal anderthalb Jahrhunderte. Der Feind war Preußen, unter dessen Führung nach Frankreichs Niederlage 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, das dann, vor allem mit dem Ersten Weltkrieg, zum kontinentalen Hauptfeind wurde.
Marine Le Pen punktete im Präsidentschaftswahlkampf mit der Ankündigung, sie werde keine Vizekanzlerin von Frau Merkel sein.
Das ist nicht antideutsch, das ist Anti-Merkel. Die Bundeskanzlerin ist in einer schwierigen Lage. Wenn sie etwas nicht tut, wird ihr vorgeworfen, sie sei passiv, wenn sie etwas tut, heißt es, sie wolle Europa beherrschen. Sie übernimmt die schwierigsten Aufgaben, redet mit Recep Erdoğan und Donald Trump, der - einmalig in der Geschichte der internationalen Diplomatie - ihr nicht die Hand gab. Sie sah darüber hinweg, weil ihr der Dialog wichtiger ist. Das würde Marine Le Pen nicht tun. Und sie würde auch nicht wissen, wie man sich benimmt. Aber glücklicherweise wird sie, im Gegensatz zu deutschen Befürchtungen, nicht Präsidentin.
Der unerschütterliche Optimist Alfred Grosser glaubt nicht, dass Marine Le Pen Frankreichs nächste Präsidentin wird und fordert ob des Erstarkens rechter Kräfte in Europa Zivilcourage und Menschlichkeit. Anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches mit dem programmatischen Titel »Le Mensch: Die Ethik der Identitäten« (J.H. W. Dietz, 240 S., geb., 24,90 €) sprach mit dem Politologieprofessor und brillanten Deutschlandkenner Karlen Vesper.
Ihre Umfragewerte nähren aber eher die Befürchtungen.
Nein, sie liegen bei nur 22 Prozent. In der zweiten Runde wird sie unterlegen sein. Ich hoffe, Emmanuel Macron gewinnt.
Ein Investmentbanker?
Er war bei der Pariser Rothschild-Bank. Das ist kein Vergehen. Er war Berater der sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und François Hollande. Wenn Marine Le Pen 35 Prozent in der Stichwahl bekäme, würde das Kapital flüchten. Ich sehe aber keinen Grund für Unkenrufe.
Wie erklärt sich das unbestreitbare Erstarken der Front National, die unter dem Vater von Marine Le Pen ein Haufen wilder Desperados war?
Das war er nicht. Jean-Marie Le Pen hat bei den Präsidentschaftswahlen 2002 fast 20 Prozent der Stimmen bekommen, nur knapp gegen den Konservativen Jacques Chirac verloren. Die Wahlergebnisse der Front National verdanken sich der großen Unzufriedenheit mit der Politik, die es in fast allen europäischen Staaten gibt, und einer Praxis, die früher den Kommunisten eigen war: Man geht zu den Menschen, scheut nicht davor zurück, im Hinterhof mehrere Treppen hoch zu steigen und nicht nur die jungen, auch die alten Leuten aufzusuchen, um sie zu überzeugen. Dafür sind sich unsere Sozialisten, die sich für eine Partei der Intellektuellen halten, zu schade.
Marine Le Pen und der Republikaner François Fillon sind in handfeste Skandale involviert. Kein Unrechtsbewusstsein bei Politikern - ein französisches Phänomen?
Das ist nicht nur ein französisches Phänomen. Glücklicherweise hat das Europaparlament endlich die Immunität von Marine Le Pen aufgehoben. Aber sie denkt nicht daran, vor Gericht zu erscheinen. Es werden jetzt vielleicht Maßnahmen getroffen, sie zu zwingen. Dass sie und Fillon überhaupt kein Unrechtsbewusstsein haben, finde ich sehr traurig. Aber das gibt es nicht nur in der Politik, auch im Bankensystem, und nicht nur in der Schweiz, ebenso in Deutschland.
Sie beklagen, die Deutschen würden mit ihrer Vergangenheit masochistisch umgehen. Angesichts der Dimension der Verbrechen der NS-Zeit ist das doch richtig.
Während Daniel Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« in den USA und Israel als unwissenschaftlich verrissen wurde und er dann nicht den in Harvard für ihn vorgesehenen Lehrstuhl für Holocaustforschung erhielt, wurde seine These vom »eliminatorischen Antisemitismus« der Deutschen von den Deutschen begierig aufgesogen. Noch schlimmer aber war das Buch von Götz Aly von 2005 »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« Die Kollektivschuld ist zurückgekehrt. Ich lehne sie strikt ab, weil es nicht »die« Deutschen gab. Eine Mehrheit folgte Hitler, aber es gab auch Deutsche, die ihre Leben riskierten, Juden versteckten und aktiven Widerstand leisteten.
Aus dem einstigen Tätervolk werden heute wieder viele zu Tätern, überfallen Migranten, Flüchtlinge, Juden, Sinti und Roma. Und eine offen neonazistische Partei wird von Verfassungshütern nicht verboten!
Das Bundesverfassungsgericht hat am 17. Januar ein skandalöses Urteil gefällt. Der Verbotsantrag gegen die NPD sei »unbegründet«, weil sie zu klein sei, als das von ihr eine Gefahr ausginge. Die NSDAP ist auch einmal klein und machtlos gewesen!
Ich bin gegen das Stigma »Tätervolk«. Während der Fußball-WM 2006 wurde ich von deutschen Medien gefragt, was ich zu den vielen Fahnen und Freudenschreie deutscher Fans sage. Ich antwortete: »Es ist das erste Mal, dass es solche Freude in dem bis jetzt so freudlosen Land gibt.« Und ich verwies darauf, dass Schwarz-Rot-Gold die Farben des Hambacher Fests von 1832, der Revolution von 1848 und der ersten deutschen Republik, der Weimarer, waren. Und was ist mit den Migranten und Flüchtlingen, die Deutsche geworden sind oder werden wollen? Sollen sie sich schuldig fühlen, die Last von Auschwitz mittragen?
Es scheint recht diffizil zu sein mit der kollektiven Erinnerung?
Das betrifft nicht nur die Deutschen. Auch die Franzosen mit ihren Kolonialverbrechen.
Als Macron jüngst von französischen Kriegsverbrechen in Algerien sprach, erntete er Entrüstung.
Er hatte aber recht. Der Algerienkrieg und das Vichy-Regime sind die zwei großen Debatten bei uns. Zu erinnern ist aber auch, dass sich der Reichtum von Städten wie Bordeaux und Nantes dem Sklavenhandel verdankt. Es wird heftig darüber gestritten, welche und wie viel negative Kapitel französischer Geschichte in die Schulbücher eingehen sollten. Das ist ein ganz ernstes Problem.
In Deutschland auch.
Die bundesdeutschen und französischen Geschichtsbücher sind seit 1952 aneinander angepasst worden. Nicht immer zum Besten. Karl der Große wird in Deutschland und Frankreich verehrt, er gilt als Vater eines toleranten Europas. Aber wie viele Sachsen hat er hinrichten lassen, weil sie sich nicht missionieren lassen wollten? Mehr als der IS. Das betrifft ebenso Personen der Zeitgeschichte. Der in Deutschland verehrte Henry Kissinger, Friedensnobelpreisträger, ist ein Kriegsverbrecher, hat Vietnam und Kambodscha bombardieren lassen. Und der von ihm eingefädelte Pinochet-Putsch am 11. September 1973 verschuldete mehr Tote als der fürchterliche Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001.
Ihr Buch befasst sich mit Identitäten. Jeder habe mehrere, sagen Sie. Wären wir da nicht schizophren?
Zunächst einmal geht es mir darum zu zeigen, dass es nicht »die« Deutschen, »die« Franzosen, »die« Engländer, »die« Juden, »die« Muslime, »die« Katholiken, »die« Flüchtlinge, etc. gibt. Ich bin Franzose, der 1925 in Frankfurt am Main geboren wurde, dessen Vater Jude, Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse und Leiter eines deutschen Kinderhospitals war. Wir mussten 1933 emigrieren. Ich bin leidenschaftlicher Pariser, aber kein Fan des Fußballclubs Paris-Saint Germain, weil dieser von Katar gesponsert wird, dem Ölstaat, der auch Terroristen finanziert. Und ein deutscher Journalist beschrieb mich mal als einen »jüdisch geborenen, mit dem Christentum geistig verbundenen Atheisten«. All das bin ich.
Die jungen Leute in den Banlieues, deren Eltern und Großeltern aus dem Maghreb einwanderten, sind auch fast alle Franzosen durch und durch wie ich. Aber weil sie diskriminiert und ihnen eine gleichberechtigte französische Identität vorenthalten wird, sie als »Fremde« gelten, suchen sie sich eine andere Identität, wenden sich dem Islam zu. In Berlin sind viele junge Türken hingegen Türken geblieben.
Meine feste Überzeugung ist: Wir bräuchten keine identifizierenden Zuschreibungen, wenn der Andere schlicht als Mensch angesehen wird.
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