Wo Marx Lesekreise zog
Georg Fülberth über »Kapital«-Alphabetisierung, die Westlinke und Interpretations-Turniere
In der Geschichte des bürgerlichen Deutschland hat es nie eine Generation gegeben, in der die Kenntnis des »Kapital« so verbreitet gewesen ist wie in der heute lebenden - zugegeben: mit einem Übergewicht der über Fünfzigjährigen. Dies gilt selbst dann, wenn wir uns auf das Territorium der sogenannten alten Bundesrepublik und Westberlins beschränken, also wieder einmal und schnöderweise die marxistische Bildung in der früheren DDR vernachlässigen. Sie verdiente eine gesonderte Betrachtung.
Zwischen dem Veröffentlichungsjahr des ersten Bandes des »Kapital« (1867) und der Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung 1933 war Marx’ Hauptwerk - bezogen auf die Breite der Bevölkerung und auch die politisch aktiven Sozialisten - weniger bekannt als heute.
Die Massenbasis der Sozialdemokratie, die Arbeiterklasse, hatte in der Regel acht Jahre »Volksschule« und lange Wochenarbeitszeiten, und wer in der Partei oder einer Gewerkschaft kämpfte, verfügte über noch weniger Muße für die Lektüre eines Buchs, dessen Verständnis ein hohes Maß auch mitgebrachter formaler Bildung erforderte.
Was aus dem »Kapital« für die politische Tätigkeit und das Begreifen der Welt unter solchen Voraussetzungen zu lernen war, fand sich in Popularisierungen oder auch in operativen Texten, etwa im Erfurter Programm von 1891. Neben bürgerlichen Professoren, die »Das Kapital« fachlicher Kritik unterzogen, hatte in der Arbeiterbewegung nur eine schmale Elite dieses Werk, und sei es nur der erste Band, ganz gelesen.
Machen wir jetzt einen Sprung ins 20. und 21. Jahrhundert. Im Sozialistischen Deutschen Studentenbund der Sechziger Jahre wurden zunächst Marx’ Frühschriften mehr studiert als »Das Kapital«. Nach 1968 aber setzte dessen breite Rezeption ein. Der Anteil von Studierenden pro Jahrgang hatte sich mittlerweile erhöht. Die Nachfrage nach Hochschulabsolvent(innen) war stark, der zu erwartende Arbeitsplatz sicher, bis zu den Berufsverboten (ab 1971) die Gefahr, dass Opposition sanktioniert wurde, gering. Aus der DDR kamen die wohlfeilen drei Bände. Die Studierendenbewegung hatte kritisches Bewusstsein verbreitet. Einige ihrer Teilnehmer(innen) nahmen deren Auslaufen als Niederlage wahr.
Der Schwung der Marxschen Frühschriften oder auch Herbert Marcuses Vorschlag der Großen Weigerung, die als eine Voraussetzung von Rebellion verstanden wurde, wich dem Wunsch, die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu studieren. Zugleich wurde der Personalbestand der Universitäten erweitert und da und dort durch marxistische Professor(inn)en angereichert. An einigen wenigen Fachbereichen gab es sogar obligatorische »Kapital«-Lektüre als Teil eines gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums auch für Lehramtskandidat(inn)en.
Doch selbst damals fanden viele qualifizierte Marxist(inn)en keine Stellen an den Hochschulen. Sie schufen sich eigene Strukturen - Verlage, Zeitschriften - oder fanden Wirkungsmöglichkeiten in den kleinen ideologischen Apparaten im Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW). Die Zerklüftung der Linken stimulierte die Ideologierezeption. In Westberlin gab es zeitweise mehrere Marx-Lesekreise nebeneinander.
Diese »Kapital«-Alphabetisierung ist zwar im Laufe der Jahrzehnte schwächer geworden, hat aber 1989 überdauert und sich immer wieder erneuert - bis heute, jetzt stärker außeruniversitär. Allerdings ist sie auf den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Sektor der seit Jahrzehnten anschwellenden Massenschicht der Intelligenz beschränkt geblieben, dessen Aufwuchs zu ihren Voraussetzungen gehört. Unter den handarbeitenden Lohnabhängigen sind die zentralen Thesen des »Kapital« selbst in ihrer popularisierten Form dagegen weit weniger verbreitet als in den heroischen Jahrzehnten der deutschen Arbeiterbewegung vor 1933.
Von diesen Entwicklungen zu trennen sind die Theorieturniere der 1970er Jahre. Hierher gehört die so genannte Staatsableitungsdebatte. Seit dem Antritt der sozialliberalen Koalition stellte sich in der Linken verstärkt die Frage nach den vielleicht doch auch reformerischen Möglichkeiten der öffentlichen Gewalt im Kapitalismus. Bei Marx ließ sich wenig darüber finden, mehr dagegen über die Einfunktionierung von Legislative, Exekutive und Judikative in die Mehrwertproduktion.
Die Theorie vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus (»Stamokap«), ausgearbeitet in Frankreich und in der DDR, hatte Einfluss in der Bundesrepublik bis hin zu einem Flügel der Jungsozialist(inn)en in der SPD. Gegen sie konkurrierten Reformsozialisten und so genannte Antirevisionisten. Sie hatten Vordenker(innen), die sich ebenfalls bei Marx bedienten. Was wurde zum Beispiel aus dessen Lehre vom Wert der Waren, der durch den Input von gesellschaftlich notwendiger durchschnittlicher Arbeitszeit bestimmt wurde, wenn der Preis durch die Marktmacht der Monopole und die Interventionen des Staates auf Dauer modifiziert wurde?
Der Begriff des Monopols trennte auch unabhängig von der Stamokap-Debatte Fraktionen. Von der Untersuchung von Konzentration und Zentralisation des Kapitals oder der gelegentlichen Verwendung des M-Worts in Marx’ ökonomischem Hauptwerk führte kein zwingender Schluss dorthin. Hier kam es auf die Beobachtung der ökonomischen Entwicklung seit 1867 - schon praktiziert in Rudolf Hilferdings Buch »Das Finanzkapital« (1910) - und ihre Weiterverfolgung bis in die Gegenwart hinein an. Ein anderer Weg war die Analyse der Akkumulation des Kapitals ohne zentrale Verwendung des Monopol-Begriffs. Der erste Weg wurde unter anderem von Jörg Huffschmid und Robert Katzenstein beschritten, der andere von Elmar Altvater.
Die gleichzeitig geführte Diskussion über das Verhältnis von historischem und logischem Charakter des »Kapital« hatte - wenn überhaupt - einen eher allgemeinen Bezug zur gesellschaftlichen Realität. Die »Neue Marx-Lektüre« versucht aus dem »Kapital« von Karl Max überzeitliche logische Strukturen herauszukristallisieren, die aus ihrem historischen Kontext herausgelöst sind.
Der Streit über diese Herangehensweise setzte zwar in bereits in den 1970er Jahren schon mit Heftigkeit ein, entfaltete sich aber erst seit den 1990er Jahren in voller Breite, insbesondere im Zusammenhang mit den Schriften von Michael Heinrich und dessen Absetzung vom so genannten Arbeiterbewegungs-Marxismus. (Diesen polemischen Begriff verwandte auch - unabhängig von der »Neuen Marx-Lektüre« - Robert Kurz, der vor der Jahrtausendwende die Geschichte des von Marx analysierten Wert-Fetischs in eine Art Erstickungstod des Kapitalismus münden sah.)
Gegen Michael Heinrich besteht Wolfgang Fritz Haug auf der Verbindung der Kritik der Politischen Ökonomie mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und den Kämpfen um deren Überwindung.
Beide Kontrahenten können sich auf »Das Kapital« berufen. Marx’ Allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und seine Hinweise auf reale Entwicklungen im Kapitalismus, die seine Aufhebung nahelegen, sind zwar unverkennbar in revolutionärer Absicht verfasst, aber deren Realisierung durch eine zielbewusste Arbeiterbewegung ergibt sich daraus nicht zwangsläufig. Wer hier Recht haben wird, entscheidet nicht die Textinterpretation, sondern - die Zukunft.
Mindestens ebenso wichtig wie diese Kontroversen sind feministische Auseinandersetzungen mit Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie - unter anderem bei Christel Neusüß: Er habe nicht diejenigen - bislang vor allem von Frauen - verrichteten Tätigkeiten genügend berücksichtigt, die zur Herstellung und Erhaltung der Arbeitskraft unentbehrlich seien, aber, da nicht entlohnt, keinen »Wert« haben. Roswitha Scholz von der Zeitschrift »Exit« spricht in diesem Zusammenhang neuerdings von »Wertabspaltung«.
Auch am Text selbst ist übrigens noch einiges zu tun. Wir zitieren, wenn wir Band 23 der Marx-Engels-Studienausgabe (MEW) benutzen, die von Engels besorgte Version von 1890. Diese berücksichtigt nur teilweise die Hinweise von Marx, wie über die zweite deutsche Auflage von 1872 hinauszugehen sei. Mittlerweile hat Thomas Kuczynski den Versuch unternommen, sie einzuarbeiten.
So besteht die Chance für eine Neue Textausgabe, die über den Stand von 1890 = MEW 23 hinausgeht. Da es eine preiswerte Ausgabe werden soll, die sich auch an Gewerkschaftsmitglieder wendet und von Studierenden gekauft werden kann, hat sich bislang kein Verlag gefunden, der sie zu finanzieren imstande ist. Das Jubiläum sollte Anlass sein, dies zu ändern.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.