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Der fast vergessene Widerstand
Siegfried Mielke und Stefan Heinz rücken antifaschistische Aktionen der Eisenbahngewerkschafter ins Rampenlicht
Am 30. August 1939 schrieb der Niederländer Eddo Fimmen, der legendäre Generalsekretär der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF), an Hans Jahn, Leiter einer Widerstandsgruppe in Nazideutschland, »wie wichtig es wäre, bei Kriegsausbruch den so wichtigen Verkehrsapparat der Reichsbahn durcheinander zu bringen«. Die unrühmliche Rolle der Bahn bei der Deportation der Juden in die Ghettos und Vernichtungslager im okkupierten Osten ist mittlerweile weitgehend bekannt. Das gilt jedoch nicht für den Widerstand von Eisenbahnern gegen das mörderische Hitlerregime. Siegfried Mielke und Stefan Heinz ist zu danken, hierzu die erste umfängliche und akribisch recherchierte Überblicksdarstellung, Resultat eines zehnjährigen Forschungsprojektes, vorgelegt zu haben.
• Siegfried Mielke/ Stefan Heinz: Eisenbahngewerkschafter im NS-Staat.
Metropol, 816 S., br., 36 €.
Im Gegensatz zur DDR, wo einzelne Studien über den antifaschistischen Kampf von Gewerkschaftern erschienen, verfasst vielfach an der Gewerkschaftshochschule »Fritz Heckert« in Bernau, spielte dieser in der bundesdeutschen Erinnerungskultur keine, bestenfalls eine marginale Rolle. Die Autoren des nun vorliegenden beeindruckenden Bandes, Politikwissenschaftler der FU Berlin, beklagen, dass sich in der Bundesrepublik selbst die Gewerkschaften nicht dafür eingesetzt hätten, Verfolgung und Widerstand gegen das NS-System systematisch zu erforschen. Sodann konstatieren sie: »Erfreulicherweise wächst inzwischen wieder das wissenschaftliche Interesse, sich mit der Arbeiter- und speziell der Gewerkschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert auseinanderzusetzen.«
Zunächst offerieren Mielke/Heinz interessante Thesen, ehe sie diese anhand porträtierter Widerstandskämpfer und Widerstandsgruppen sowie deren Aktionen belegen. Eine der Thesen lautet, dass der gewerkschaftliche Widerstand im »Reich« wie in der Emigration hinsichtlich Umfang und Intensität bisher deutlich unterschätzt worden sei. Zweitens: »Viel stärker als bisher behauptet, beteiligten sich führende Funktionäre, die in der Weimarer Republik nicht selten als ›Bonzen‹ diffamiert worden waren, am Kampf gegen das NS-Regime.« Drittens: Die während der NS-Zeit bewahrte persönliche und politische Integrität ehemaliger Gewerkschaftsfunktionäre ermöglichte nach 1945 einen raschen Wiederaufbau der Gewerkschaften.
Natürlich leugnen Mielke/Heinz nicht, dass sich auch die Mehrheit der Eisenbahner anpasste und Funktionäre anfangs einer verhängnisvollen Tolerierungspolitik anhingen. Aber es gab eben auch einen Julius Leber oder Hans Böckler. Für das Autorenduo interessanter sind indes die unbekannteren Helden. Etwa Hans Jahn, dem es nach Machtantritt der Nazis gelang, 17 000 Karteikarten mit Mitgliedsadressen dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Oder Otto Scharfschwerdt, ehemaliger Funktionär des Vorstandes der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, der die große Widerstandsgruppe »Nordbahn« leitete und unter bis heute ungeklärten Umständen im KZ Sachsenhausen starb.
Nicht nur die sozialdemokratischen, freien, christlichen und liberalen Gewerkschafter finden hier Aufmerksamkeit, auch die Kommunisten. Deren Rote Gewerkschaftsopposition (RGO) wurde von den Nazis schon im Februar 1933 zerschlagen, Wochen vor dem Überfall auf alle Gewerkschaftshäuser deutschlandweit am 2. Mai. Obwohl auch die RGO-ler schon nach dem Machtantritt der Nazis einige Unterlagen in Sicherheit gebracht oder vernichtet hatten, fand die Gestapo bei der Durchsuchung ihres Büros in der Berliner Münzstraße 24 am 28. Februar, nach der Nacht des Reichstagsbrandes, noch aufschlussreiches Material, das in der Folge zur Verhaftung weiterer Funktionäre führte. »Die Verluste des RGO-Funktionärskörpers insbesondere in den RGO-Hochburgen Berlin, Ruhrgebiet und Hamburg waren immens«, schreiben die Autoren. Sie stellen unter anderem Ernst Wörpel vor, ab 1935 bei »Osram« Leiter einer KPD-Zelle; im April 1937 verhaftet, durchlitt er das Zuchthaus Brandenburg und das KZ Sachsenhausen. Beleuchtet werden die teils heftigen Diskussionen unter den Antifaschisten. So war Jahn als Mitglied der Illegalen Reichsleitung gegen die von Kollegen favorisierte, aber zu riskante und ineffektive Zentralisierung der Widerstandsarbeit in den Betrieben. Den Band komplementiert ein gemeinsam mit Eberhard Podzuweit erarbeiteter Anhang mit 350 Kurzbiografien.
An diesem Standardwerk wird künftig keiner vorbeikommen, der sich mit der Geschichte des deutschen Widerstands befasst.
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