- Kommentare
- Sieben Tage, sieben Nächte
Der Kapitalismus als Verführer
Wolfgang Hübner erklärt, wie man durch eine Süßigkeit billiger Bahnfahren kann und wo Karl Marx das vorausgesagt hatte
Der Kapitalismus ist ein raffinierter Hund. Er kriegt am Ende auch seine schärfsten Kritiker rum. Er ist ein Räuber, ein Erpresser, ein Verführer.
Neulich wollte eine Kollegin aus der nd-Redaktion verreisen. Sie besitzt eine gefestigte Weltanschauung, zu der ein gesunder Abscheu gegenüber dem Kapitalismus gehört. Bei solchen Leuten, das weiß der Kapitalismus, braucht er es mit Räubern und Erpressen gar nicht erst zu versuchen. Da hilft nur Verführen.
Während sich also die Kollegin auf die Reise vorbereitete, fiel ihr wie durch einen Zufall eine Verlockung des Kapitalismus in die Hände. Es handelte sich um eine Aktionspackung von Toffifee, die jedem, der sie kaufte, nicht nur eine Überdosis Süßkram versprach, sondern auch einen 15-Euro-Rabatt für eine Bahnfahrt.
Wir wissen nicht, wie lange die Kollegin sich gegen die Sirenengesänge des Kapitalismus wehrte, aber letztlich hat sie verloren und der Kapitalismus hat sich zum ersten Mal in dieser Angelegenheit ins Fäustchen gelacht. Dabei hatte Karl Marx alles genau vorausgesagt. In einer berühmten Fußnote des »Kapital« wird die verheerende Wirkung steigender Profitaussichten beschrieben. »15 Euro«, heißt es darin abschließend, »und es existiert kein Verbrechen, das man nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Nicht einmal die Benutzung einer Toffifee-Aktionspackung.« (»Das Kapital«, Band 1, MEW Bd. 23, S. 788)
Diese Fußnote hatte die Kollegin entweder vergessen oder im Studium nicht gründlich durchdrungen. Nun ja. Um den Rabatt zu erhaschen, musste sie auf der Toffifee-Internetseite ein paar persönliche Daten hinterlassen (da lachte der Kapitalismus zum zweiten Mal) und hatte schließlich ihre Fahrkarte.
Wir fragen uns: Kann es das gewesen sein? Muss die Wirtschaft nicht noch kräftiger angekurbelt werden? Beispielsweise wäre es gut für den Aufschwung, wenn Inhaber eines Toffifee-Tickets während der gesamten Fahrt einen Button »Meine Reise wurde von Toffifee gesponsert« am Revers tragen müssten. Bei der Fahrkartenkontrolle müsste die Reisende vernehmlich einen vorgegebenen Werbeslogan ausrufen (»Ja, ich steh auf Toffifee!«), der Zugbegleiter müsste die Richtigkeit mit Hilfe eines Handbuchs kontrollieren, in dem noch viel mehr Slogans von noch viel mehr Firmen stehen, die Aktionspackungen verkaufen.
So wäre der Waggon erfüllt von einem vielstimmigen Reklamerufen, dass Christian Lindner seine helle Freude hätte. Überhaupt: Wenn die FDP erst einmal nach 20 abgebrochenen Sondierungen und vorgezogenen Wahlen die absolute Mehrheit erreicht hat, wird sie durchgreifen. Nichtmitwirkung an der Marktwirtschaft wird als Kapitalverbrechen eingestuft, und Verächter von Toffifee-Aktionspackungen können sich frisch machen. Wahrscheinlich im Otto-Graf-Lambsdorff-Umerziehungsheim.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.