Sie träumten vom besseren Leben

Daniel de Roulets Roman handelt von Schweizer Anarchistinnen in Südamerika

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie ein Grab schließt uns der Jura ein/ Helvetien ist kaum zu sehn/ In der Ferne in Patagonien! Ist der Himmel weit und schön ... Den Atlantik überqueren wir! Singend und frohgemut/ Die bittere Not verlassen wir! Singend und frohgemut.« Mathilde Basswitz, die jüngste der acht Emigrantinnen aus der kleinen Uhrenstadt Saint-Imier im Schweizer Jura, hat sich dieses Mutmacher-Lied ausgedacht.

Mit je einer wertvollen Zwiebeltaschenuhr als Rücklage und den Werken von Jean-Jacques Rousseau im Gepäck haben sich die jungen Frauen zusammen mit neun kleinen Kindern »zwischen null und sechs Jahren« auf den weiten Weg ins ferne Patagonien gemacht. Zu verlieren haben sie nichts. Sie entfliehen bitterer Armut, Zwängen, Schlägen, Krankheiten und harter Lohnarbeit im florierenden Uhrengewerbe und anderen Handwerksberufen.

Mathilde ist Waise, ihr Vater war ein jüdischer Arzt, der von der Regierung verfolgt wurde und starb, als sie noch ein Kind war. Indessen sind Bakunins anarchistische Ideen von einem herrschaftsfreien, zwanglosen Leben bis in ihre Stadt gedrungen und haben die Frauen ermutigt, ihr Glück auf dem anderen Kontinent jenseits des Ozeans zu versuchen. Auch die Nachricht eines gewaltsamen Todes von Colette und Juliette, die kurz zuvor zusammen nach Amerika ausgewandert sind, kann sie von ihren Plänen nicht abbringen.

Im Juni des Jahres 1873 beginnt die große Reise der »kleinen Anarchistinnen«. Über Paris und Le Havre gelangen sie nach Brest, wo sie an Bord der »Virginie«, eines großen Transportschiffes, gehen. Vier Monate wird es dauern, bis sie endlich in Punta Arenas landen. Doch da werden ihnen die ersten Illusionen schon verloren gegangen sein. In Eisenkäfigen eingesperrt, werden in diesem »Geisterschiff« mit ihnen zusammen unglückliche Pariser Kommunarden in die Verbannung deportiert. Sozialisten und Anarchisten unter ihnen liefern sich auf dem Schiff ständig heftige Streitereien. Noch schlimmer ist es, dass eine der Frauen bei der Geburt ihres Kindes stirbt. Emilies Tod ist der erste der vielen noch kommenden Verluste, an deren Ende - das sei hier vorweggenommen - nach Jahren und Jahrzehnten voller Arbeit, Fluchten und Neuanfängen schließlich nur noch eine der Frauen übrig bleibt. Es ist Valentine, der wir diesen Bericht (oder Roman) verdanken, denn sie ist es, die 1910 mit 64 Jahren in Montevideo alles für die Nachwelt aufschreiben wird.

Aber noch ist es längst nicht so weit, noch gehen die jungen Frauen mit Elan an den Aufbau einer Kooperative, obwohl sie sich das neue Land anders vorgestellt haben als das, was sie vorfinden: ein Straflager mit chilenischer Garnison. Die Frauen errichten Bretterhäuser und eröffnen ein Uhrengeschäft und eine Bäckerei mit dem schönen Namen »Panaderia universal«. Die Kinder erhalten Unterricht. Es gibt Liebesgeschichten und Geburten, und Mathilde sorgt für den Kontakt mit der Welt durch die Korrespondenz mit dem Bakunin-Schüler Benjamin. Jahre vergehen, wieder sind es Zeiten harter Arbeit und der Träume vom besseren, freien Leben.

Ein erneuter Aufbruch führt die kleine Gruppe von Frauen und Kindern auf die Robinson-Insel Juan Fernandez, und wiederum vertrieben, scheint endlich in Buenos Aires das Paradies ein Stück näher gekommen zu sein. Ein Irrtum! Tausende von Auswanderern aus Europa, Enttäuschte, Glücksritter, überschwemmen die südamerikanischen Hafenstädte. Viele sind zu üblen Kolonisten, andere zu Verbrechern geworden; ihnen fallen die Frauen zuerst zum Opfer. An einer Stelle schreibt Valentine in ihren Erinnerungen: »Man brachte uns ins Immigrantenhotel, ein riesiges Gebäude am Hafeneingang. Dorthin schob Europa seine armen Massen ab. Auf eigenem Boden legte es Eisenbahnlinien an, vergrößerte seine Häfen und hübschen Stadtviertel ... Die überzähligen, die Armen und Deklassierten aber schickte es mit der Verheißung auf ein besseres Leben nach Übersee und kippte sie in den Häfen Amerikas aus.«

Wie das in den Wartesälen dieser »Hotels« damals aussah, zeigt das Titelbild des Buches: Hier gibt es nur Öde, Müdigkeit, Warten, verlorene Hoffnung. Dieser kleine Roman erzählt sehr individuell (und ein wenig kriminalistisch) ein dunkles Kapitel Realgeschichte, aber er hinterlässt erstaunlicherweise keine Trauer, eher Bewunderung für den Mut dieser Frauen.

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Roman. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Limmat Verlag, 184 S., geb., 24 €.

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