Frau im Ohr

Nichts sehen können und trotzdem Kinofan? Eine App macht Filme für Blinde erlebbar. Geschichte einer kleinen Revolution.

Es ist jetzt 20 Jahre her, seit sie das letzte Mal auf der Leinwand etwas erkannte. Sie sah Joseph Fiennes, wie er sich als uninspirierter Theaterautor William Shakespeare in »Shakespeare in Love« abmühte, um die gierigen Auftraggeber zufriedenzustellen, die das nächste grandiose Stück von ihm erwarteten. »Die schönen Ruderszenen auf der Themse, Judy Denchs fantastisches Kostüm, das habe ich noch erkannt. Natürlich nicht jeden Pickel auf der Haut«, sagt Barbara Fickert. Die haben Schauspieler in solchen Filmen eh nicht, vielleicht beruhigt sie das. Heute Abend, nach dem Gespräch, wird sie sich »Die dunkelste Stunde« ansehen, Gary Oldman als Winston Churchill, oscarnominiert. Barbara Fickert ist blinde Cineastin, Kinokritikerin, Bloggerin. Kurz vor der Einschulung 1966 bekam sie die Diagnose, dass sie nur eine sehr geringe Sehstärke hat, die sich vor 20 Jahren noch einmal verschlechterte. Aus Umrissen wurde hell und dunkel. »Immer weniger oder irgendwann nichts zu sehen, hat mich nie daran gehindert, ins Kino zu gehen«, sagt Fickert.

Vor ein paar Tagen hat sie sich »Licht« mit Devid Striesow angesehen. Hat man sie tatsächlich gerade gefragt, welchen Film sie zuletzt gesehen hat? Gesehen, ja doch, darf man so sagen, sagt Fickert. In der Woche davor »Aus dem Nichts«, der Film, mit dem es Fatih Akin beinahe zu den Oscars geschafft hätte. Wenn es passt, geht Fickert einmal in der Woche ins Kino, dann schreibt sie Kritiken für ihren Blog »Blindgängerin«, auf dem sie über sich selbst schreibt »schlecht gucken, das kann se gut«.

Was auf der Leinwand geschieht, sieht Fickert nicht, aber sie hat ein Smartphone dabei, das reicht. Mit der App Greta, die es seit 2013 gibt, lädt sie sich die Audiodeskription (AD), die Filmbeschreibung für Blinde herunter. Im Kino synchronisiert sich die Hörfassung auf der App über das Mikrofon jedes Mal, wenn im Film ein Geräusch vorkommt, das es nur einmal gibt. So kann man zwischendrin auch auf die Toilette, ohne dass die App den Anschluss verliert. An den Stellen ohne Dialog beschreibt ein Sprecher oder eine Sprecherin, was auf der Leinwand passiert, Gesten und Mimik der SchauspielerInnen, aber auch Stilmittel, wie Kamerafahrten, Perspektiven, Licht oder Landschaften, wenn das für die Stimmung des Filmes wichtig ist.

Erst seit es Greta gibt, ist Fickert von der Bürokraft eines Logistikunternehmens zur Kinoblindgängerin geworden. »Damit hat sich für mich eine ganz neue Welt erschlossen«, sagt sie. Die Filmemacherin Seneit Debese entwickelte Greta im selben Jahr, in dem das Filmfördergesetz novelliert wurde. Seit Januar 2013 ist es für jeden Film, der eine Förderung über die Deutsche Filmförderungsanstalt (FFA) oder den Deutschen Filmförderfonds (DFF) erhält, verpflichtend, eine barrierefreie Fassung mit dem Kino- oder Fernsehstart anzubieten. Bei ausländischen Filmen kommt es auf den deutschen Verleiher an, ob er sich eine Audiofassung leistet.

Während es bis Ende der 1990er Jahre höchstens zwei oder drei Hörfilme im Öffentlich-Rechtlichen gab, kann Fickert heute in Star Wars und Django gehen. ARD, ZDF, Arte und 3Sat zeigen pro Jahr über 500 Filme in der Hörfassung. »Kino ist für mich seither ein ganz anderes Erlebnis«, sagt Fickert, die bis dahin auch in Kinofilme ohne Audiodeskritption ging und sich die Handlung über die Dialoge erschloss. Inzwischen kann sie einen Film als düster oder poetisch wahrnehmen, versteht Witze, die nur über die Bild-/Dialogebene funktionieren. Fickert erzählt von dem deutschen Film »Heil«, für den es keine AD gibt, bei dem sie nur das Gesprochene und die Geräusche als Anhaltspunkt hatte. In dem überfällt eine Gruppe Neonazis ein Geschäft und ballert um sich, dabei schießen sie ein Hakenkreuz in die Wand. Die Polizei ermittelt und ein Beamter sagt vor den Einschusslöchern stehend den Satz: »Also einen rechten Hintergrund schließen wir aus.« »Der Gag ist ohne AD total an mir vorbeigegangen«, sagt Fickert.

Am Mittwoch zwischen Weihnachten und Neujahr sitzt Marit Bechtloff in einem Büro des NDR in Hamburg. Die Gänge sind verwaist, die meisten im Urlaub. Neben ihr Stefanie Schruhl, blinde Hörfilmredakteurin und Dennis Tietz, sehend, aus der Untertitelredaktion. Bechtloff hat zwei Bildschirme vor sich, auf dem einen eine Word-Datei mit der AD, die sie ausgearbeitet hat, auf dem anderen die Serie »Jennifer - Sehnsucht nach was besseres« mit einem Timecode der einzelnen Szenen. Die Serie lief am 2. Januar im NDR. Klaas Heufer-Umlauf spielt darin den abgewrackten Party-DJ Ingo, der den Friseurladen übernommen hat, in dem Jennifer arbeitet. Jennifer will als Beautybloggerin mit eigenem Youtubekanal durchstarten, weil sie der Job im Salon anödet. Zusammen mit Ingo nimmt sie das erste Video dafür auf. Es geht um Haarstylingtipps. Bechtloff liest aus ihrem Skript für die Szene vor, während die auf dem Bildschirm durchläuft: »Ingo steckt Jennifers Haare in einen Sandwichtoaster«. Bei Minute 14.35 wird es heikel. Jennifer sagt, dass sie ganz viele Likes für ihr Video braucht. »Also ganz viele Daumen nach oben von euch.« Jennifer streckt ihren Daumen in die Kamera. Ingo nimmt seinen Daumen und Zeigefinger, formt einen Ring und schiebt ihn über Jennifers ausgestreckten Daumen hoch und runter. Pause. Bechtloff guckt Tietz und Schruhl an. Sie hat nur ein paar Sekunden bis zum Szenenwechsel, um die Geste und den Flachwitz für die sehbehinderten ZuschauerInnen verständlich zu machen. »Ingo macht eine obszöne Bewegung? Nein, das wäre zu formell«, sagt Bechtloff. »Also wenn du Wichs-Bewegung sagst, kriegen wir Ärger mit der Intendanz«, sagt Schruhl. Sie zählen noch einmal genau nach, wie viele Sekunden bis zur neuen Szene bleiben. Am Ende einigen sie sich auf: »Ingo bewegt wie beim Onanieren seine Finger über ihren Daumen.« Das geht beim NDR durch.

Bechtloff ist Hörfilmautorin und erstellt barrierefreie Filmfassungen, solche, die Fickert mit ihrer App abruft. Bechtloff ist Medienwissenschaftlerin, hat eine Zusatzausbildung zur Hörfilmautorin gemacht und ist Vorsitzende der Vereinigung der deutschen FilmbeschreiberInnen Hörfilm e.V. Ihre besten Kollegen sind das Synonymwörterbuch und Google. »Die Herausforderung ist, in wahnsinnig kurzer Zeit so präzise wie möglich zu sein«, sagt sie. Für sie ist es wichtig, ob in einer Szene Stroh oder Heu auftaucht. Ob ein Gerät ein Smartphone oder ein Organizer ist und ob sich DJ Ingo mackermäßig in den Schritt greift oder nur die Boxershorts zurechtzerrt. Sie überlegt, ob der Satz: »Ingo bringt Sektgläser rein« oder »Ingo bringt Sekt rein« das selbe aussagt, weil sie nur zwei Sekunden in einer Sprechpause hat, um zu beschreiben, was passiert. Immer wieder muss sie neue Wörter finden, wenn in einem Teenie-Film innerhalb von fünf Minuten acht Mal ein Rucksack auf und zu gemacht wird. Ihre einzige Chance, den Blinden zu beschreiben, was Sehende sehen, sind die Sekunden zwischen den Dialogen. »In die Dialoge reinzureden ist tabu«, sagt Bechtloff. Genauso unerlaubt ist es, in die Filmmusik oder handlungsrelevante Geräusche zu sprechen. Für die Qualität einer AD haben die deutschsprachigen Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Standards erarbeitet. »Es klingt komisch, aber auch Farben zu beschreiben, ist wichtig«, sagt Schruhl, die für den NDR als freie Mitarbeiterin regelmäßig AD-Skripte der HörfilmautorInnen abnimmt. Eine Mehrheit derer, die barrierefreie Fassungen nutzt, ist erst im Alter erblindet, vieles können AutorInnen deshalb aus der sehenden Welt voraussetzen. Schruhl, die von Geburt an blind ist, findet Farben trotzdem wichtig. Sie hat ihre Bedeutung wie Vokabeln auswendig gelernt. Blau ist kalt, rot ist warm. »Aber eine echte Dauerbaustelle sind Blicke«, sagt Schruhl. Guckt Ingo Jennifer sehnsüchtig, verliebt oder schüchtern an? Produktionsfirmen oder Verleiher, die auf Qualität achten, engagieren deshalb immer ein Team, das an einer AD arbeitet. Im besten Fall sind sie zu dritt. Ein ausgebildeter Hörfilmautor, eine Blinde oder Blinder und ein Redakteur des Auftraggebers.

»Seit es das Filmfördergesetz gibt, drängen auch Laien auf den Markt«, sagt Anke Nicolai, Autorin, Redakteurin und Koryphäe des Hörfilmkinos. Seit 21 Jahren ist sie dabei, hat bei den Pionieren der Audiodeskription Bernd Benecke vom Bayerischen Rundfunk und Elmar Dosch gelernt, denen es zu verdanken ist, dass 1993 mit »Eine unheilige Liebe« der erste deutsche Hörfilm im ZDF lief. Einige Firmen setzen Studenten ohne Zusatzausbildung an eine AD, kein einziger Blinder hat das Skript mit ihnen durchgesprochen. »Das drückt die Preise und die Qualität leidet, dabei geht es um einen essenziellen Aspekt der Teilhabe«, sagt Nicolai, die momentan als Hörfilmkoordinatorin auf der Berlinale arbeitet. Eines der wenigen Festivals in Deutschland, das barrierefreie Filmfassungen anbietet. In diesem Jahr werden fünf Filme in acht Vorführungen mit Hörfassung gezeigt, darunter drei aus dem Wettbewerb. Immer noch zu wenige, findet Nicolai, aber mehr gab das Budget leider nicht her. Eine AD zu erstellen kostet die Produktionsfirmen oder den Verleiher zwischen 4000 und 6000 Euro, die Bereitstellung über die Greta-App noch einmal etwa 1500 Euro. Für ältere ZuschauerInnen oder die, die kein Smartphone haben, stellt das Festival Tablets und Telefone mit der Greta-App zur Verfügung. Nicolai erklärt vor der Vorstellung jedem, wie das Gerät funktioniert.

Sie würde es gut finden, wenn die AD-Skripte bei der FFA oder der DFF noch einmal jemand abnehmen würde, was nicht passiert. So kann es vorkommen, dass Skripte entstehen, die völlig unnütze Beschreibungen vermitteln, etwa, dass eine Kutsche mit Pferdegetrappel ins Bild gefahren kommt. »Das hören die Blinden ja selbst«, sagt Nicolai. Erheblichen Nachholbedarf sieht sie auch im Internet. »Es gibt so gut wie keine Clips und Videos, die barrierefrei sind«, sagt sie. Im Theater und der Oper hingegen passiere eine Menge. Vorsichtig zwar, aber in Karlsruhe, Dresden, Graz und Heidelberg war sie in den letzten Jahren immer wieder, hat live Aufführungen eingesprochen, für die sie in einer Dolmetscherkabine sitzt, während die Blinden ihre Beschreibungen über Kopfhörer empfangen. »In Graz waren im Dezember 140 Leute in einer Vorstellung, weil die Oper Graz die einzige in Österreich ist, die live Beschreibungen anbietet.« Nicolai, die einen blinden Vater hat, strahlt, als sie von dem Abend erzählt.

Barbara Fickert macht sich auf den Weg ins Kino, die AD für »Die dunkelste Stunde« hat sie sich gerade kostenlos auf ihr Handy geladen. Ein Taxi wird sie nicht rufen, die Busfahrer seien in Berlin im Gegensatz zum Klischee ziemlich freundlich. Der weiße Langstock, gegen den sie sich anfangs noch so vehement gewehrt hat, reicht als Erklärung. Nur einmal musste sie ein Taxi nehmen, weil sie sonst viel zu spät zum Film gekommen wäre, da fragte sie der Fahrer, ob sie das Blindsein nur spiele. Was wolle schon eine Blinde im Kino?

Barrierefreie Angebote der Berlinale unter: www.berlinale.de/de/programm/inklusion/index.html, Tickets: 030 25 92 02 59

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