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Zur Rettung ein eigenes Kind
Die Gedächtnisprotokolle der Lotte Strub-Rayß über ihre Zeit in Stalins Sowjetunion
Unsere erste Begegnung fand im Sommer 2003 statt. Dank Konrad Rayß kam das Treffen mit seiner Mutter schnell zustande. Was Lotte Strub über die Haftjahre im Karagandinsker Besserungsarbeitslager und die anschließende Verbannung berichtete, war mir eine große Hilfe bei den Recherchen über die Geschichte des Karlag.
• Lotte Strub-Rayß: Verdammt und entrechtet. Stuttgart. Basel. Moskau. 16 Jahre Gulag und Verbannung.
Trafo-Verlag, 650 S., geb., 29.80 €.
Ein Interview, das kurz vor ihrem Tod 2008 aufgezeichnet wurde und im Dokumentarfilm »Gefangen in der Hungersteppe« Verwendung fand, belegt, wie sehr sie die Erlebnisse in Stalins Sowjetunion und im Gulag noch Jahrzehnte später bewegten und aufwühlten - aber auch, dass nichts vergessen ist.
Nach einem Arbeitsunfall 1928 hat Lotte den Arzt Friedrich Wolf aufgesucht. Aus ihrer Freundschaft wurde Liebe. 1934 folgte sie ihm in die UdSSR. Hier angekommen, musste Lotte auf Anweisung von Nadeshda Krupskaja, Lenins Witwe, nach Engels, in die Wolgarepublik, zum Studium. Nach der Trennung von Wolf, dem sie eine Tochter namens Lena geboren hatte, heiratete sie Lorenz Lochthofen. Den beiden war nur ein kurzes Glück gemeinsam vergönnt, Lorenz wurde 1937 verhaftet, Lotte im Jahr darauf. Der Untersuchungsführer des NKWD warf ihr unter anderem vor, im Auftrag des italienischen Faschisten Leonardo da Vinci Spionage betrieben zu haben. In der Annahme, die unsinnige Anschuldigung würde alsbald fallengelassen werden, widersprach Lotte nicht. Die Hoffnung auf rasche Entlassung und ein Wiedersehen mit der zurückgelassenen vierjährigen Tochter erfüllte sich nicht. Zu dem Trennungsschmerz kam der Verlust ihrer zweiten Tochter Larissa, die sie mit Lochthofen hatte. Solange sie stillen konnte, durfte Larissa bei ihr in der Zelle bleiben. Als die Kleine plötzlich erkrankte, verweigerte der Gefängnisarzt jede Hilfe. Ohne den Beistand der Mitgefangenen hätte Lotte den Tod von Larissa nicht überlebt.
Lorenz Lochthofen wurde zu acht Jahren »Besserungsarbeit« in Workuta, Lotte zu fünf Jahren in Kasachstan verurteilt. Da in den Kriegsjahren keine Deutschen entlassen wurden, musste sie bis 1946 im Karlag ausharren. Als sie die Nachricht von der Abreise Friedrich Wolfs nach Berlin erreichte, der angeblich Lena mitgenommen haben soll, brach sie psychisch zusammen. Eine Mitgefangene verhinderte den Selbstmordversuch und munterte Lotte auf, sie könne sich doch noch ein Kind anschaffen. Ein schwacher Trost, aber die Rettung. Mit einem Sohn auf den Armen wurde sie aus dem Lager entlassen, durfte aber die Region um Karaganda nicht verlassen. Erst 1954 konnte sie mit ihm in die DDR ausreisen.
Die von Konrad Rayß herausgegebenen Erinnerungen enthalten mehr als nur die erschütternde Schilderung ihrer Verhaftung in der Sowjetunion und der Zwangsarbeit. Sie schließen auch die bedrückende Schilderung der »Kindzeit«, der Ausbildung und der Beziehung zu Wolf - dessen Heldenbiografie umgeschrieben werden muss -, der Ehe mit Lochthofen sowie ihren Kampf um die Ausreisegenehmigung und ihre Ankunft in der DDR, wo sie von Mitarbeitern der sowjetischen Botschaft und ZK-Mitgliedern empfangen wurde. Späte Genugtuung.
Lotte begann 1998, ihre Memoiren zu verfassen. Urspünglich waren sie mit dem Titel »Persona non grata« überschrieben. Er wurde in »Verdammt und entrechtet« geändert - eine klarere Aussage.
Ihre Briefe aus der Lagerzeit hatte Lotte aus Angst vor erneuten Repressalien in der UdSSR verbrannt. Auch ihre unmittelbar nach der Rückkehr in die DDR aufgeschriebenen Erinnerungen aus Furcht vor einer Entdeckung vernichtet. Ihr Gedächtnis allerdings war ausgezeichnet.
Aus dem vierten Buch ihrer Memoiren wird in diesem Band nur der Anfang veröffentlicht, merkt Sohn Konrad Rayß an. Dieser thematisiert das Ende der Verbannung seiner Mutter in der Sowjetunion, ihre Rückkehr und ihren jahrzehntelangen vergeblichen Versuch, in der DDR einen ihr angemessenen, lebenswerten Platz zu finden. Die »restlichen« fünf Jahrzehnte spart die nun vorliegende Autobiografie weitgehend aus, obwohl auch dazu beeindruckende Aufzeichnungen vorliegen, auch wenn sie nicht die Dichte der Erzählung aufweisen wie die bis 1954 reichenden Erinnerungen.
Horst Groschopp geht im Nachwort aber auf diese Zeit ein, die auch in dem vor einigen Jahren von Sergej Lochthofen herausgegebenen Lebensroman seines Vaters »Schwarzes Eis« nachgelesen werden kann. In der DDR traf der aus Workuta zurückgekehrte Lorenz Lochthofen seine von den sowjetischen Behörden für tot erklärte Frau wieder. Nach Jahren der Trennung gab es für Lotte und Lorenz jedoch kein gemeinsames Lebensglück mehr.
Mit »Verdammt und Entrechtet« ist die Literatur über das Exil um eine erschütternde Geschichte reicher.
Wladislaw Hedeler
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