Gier und Gewalt, damals wie heute

Grimmelshausens «Simplicissimus Deutsch» und die Biografie von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz als Extradrucke

  • Holger Teschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein Literatur- und Lebensdenkmal der seltensten Art, das in voller Frische fast drei Jahrhunderte überdauert hat und noch viele überdauern wird«, schrieb Thomas Mann 1944 anlässlich einer schwedischen Übersetzung von Grimmelshausens Schelmenroman »Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch«. »Ein Erzählwerk von unwillkürlicher Großartigkeit, bunt, wild, roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf Du und Du, zerknirscht am Ende und gründlich müde einer in Blut, Raub, Wollust sich vergeudenden Welt, aber unsterblich in der elenden Pracht seiner Sünden.«

Fünf Jahre zuvor hatte Bertolt Brecht im schwedischen Exil sein Stück »Mutter Courage und ihre Kinder« beendet, das von Grimmelshausens Roman »Courasche« angeregt und 1941 in Zürich uraufgeführt wurde. Am Ende des »Tausendjährigen Reiches« und des von seinen Machthabern begonnenen Zweiten Weltkriegs war Grimmelshausens Werk fast so präsent wie zur Zeit seiner Entstehung. Dass der bedeutendste Roman der deutschen Barockliteratur heute wieder von erschreckender Gegenwärtigkeit ist, sagt einiges über den Zustand unserer Welt.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, geboren um 1621 im hessischen Gelnhausen und in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges als Trossjunge, Musketier und Regimentsschreiber zwischen 1635 und 1648 durch das halbe Römische Reich Deutscher Nation verschlagen, begann mit seiner schriftstellerischen Arbeit nach Kriegsende im badischen Gaisbach, wo er als Gutsverwalter und Gastwirt Zeit zum Schreiben fand. Nach dem Erscheinen des »Satirischen Pilgrim« 1666 veröffentlichte er zwei Jahre später den ersten Teil des »Simplicissimus«, der ein umgehender Erfolg wurde und schnell in Nachauflagen und Raubdrucken verbreitet wurde. Schon 1671 gab es eine fünfte Auflage, die der Autor um eine »Continuatio« genannte Fortsetzung erweitert hatte. Danach folgten bis zu Grimmelshausens Tod im August 1676 weitere »Simplicianische Schriften«, darunter die »Courasche«, der »Seltsame Springinsfeld« sowie das »Wunderbarliche Vogelnest«. Selbst nach seinem Tod riss die Fortsetzungsflut durch andere Autoren und Bearbeiter nicht ab.

Die Geschichte des »reinen Toren Simplicius« , der als Junge nach einem Überfall auf den heimischen Bauernhof in die Wälder flüchtet, dort auf seinen als Einsiedler lebenden Vater trifft und danach von ständig wechselnden Offizieren durch den Krieg geschleift wird, verlor fast ein Jahrhundert lang nichts von ihrer Beliebtheit. Aber schon im 19. Jahrhundert begann die barocke Sprache und ihre verschachtelte Syntax den Lesern unzugänglicher zu werden. Dennoch gehörte der Roman, neben Wieland, Goethe und Jean Paul, zum (ungelesenen) Kanon des deutschen Bildungsbürgertums.

Der 400. Jahrestag des Beginns des Dreißigjährigen Krieges gibt nun einen späten Anlass, dieses grandiose Buch wiederzuentdecken. Reinhard Kaiser ist mit seiner Übersetzung das Kunststück gelungen, Grimmelshausens barockes Zeitgemälde sprachlich so aufzufrischen, dass es wieder leuchtet wie ein restauriertes Bild, auf dem alle nachgedunkelten oder verblassten Stellen in alter Farbkraft erstrahlen. Die kunstvolle Verflechtung von biografischem Abenteuer, fantastischer Kolportage und bildungsbeflissener Assoziationswut entfaltet in Kaisers Sprache ein Panorama des Krieges, das mit blendender Schärfe Grauen und Größe dieser Zeit sichtbar macht.

Wir entdecken, dass die deutsche Literatur mit Grimmelshausen einen Dichter besitzt, der Cervantes und Shakespeare das Wasser reichen kann. Was für Shakespeare die Erfahrung des Theaters und der Umbrüche des Elisabethanischen Zeitalters waren, das bedeuteten für Grimmelshausen die Erfahrungen des Krieges und seiner Folgen. Schlachtfelder und Heerstraßen wurden zu seinen Universitäten, auf denen er die Sprache der Mächtigen und Gebildeten ebenso studierte wie die Dialekte und das Rotwelsch der Soldaten und Kriegsflüchtlinge.

Grimmelshausens Werke entstanden in der kurzen Zeitspanne von zehn Jahren, und man wundert sich, dass die Autorschaft dieses einstigen Musketiers bisher noch nicht angezweifelt worden ist. Denn selbst wenn man annimmt, dass er seit seiner Jugend ein unersättlicher Leser war und schon als Regimentsschreiber Vorarbeit leisten konnte, so ist diese plötzliche Produktivität neben seiner Arbeit als Schultheiß und Wirt dennoch schwer zu erklären.

Dieses Rätsel versuchen Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz in ihrer Biografie »Grimmelshausen. Vom Musketier zum Weltautor« zu lösen, die jetzt ebenfalls als Extradruck der Anderen Bibliothek vorliegt. Darin zeichnen sie den Lebensweg des Dichters anhand der wenigen Dokumente und der vielen Bücher, die über ihn verfasst worden sind, auf ebenso spannende wie kenntnisreiche Weise nach. Sie kommen, auch mit Blick auf Reinhard Kaisers Übersetzung, zu dem Fazit: »Die simplicianischen Bücher Grimmelshausens sind von einem literarischem Reichtum, der offenbar nach 350 Jahren nicht versiegt ist. Wir können ihre großen Themen wie Krieg und Frieden, Gewalt und würdiges Leben, Geld und Eros, Schuld und Erlösung als aktuelle Probleme begreifen, ohne die historische Distanz zu unterschlagen.«

Grimmelshausens erklärte Absicht war es, »mit Lachen die Wahrheit zu sagen«. Er lässt seinen Simplicius am Ende zum Einsiedler auf einer Insel im Indischen Ozean werden, um der verkehrten Welt Europas zu entkommen. Doch selbst hier holen ihn Gier und Gewalt ein und bringen ihn schließlich zurück in das zerfallende Abendland. Wenn man Grimmelshausens satirischem Blick auf die Doppelmoral seiner Zeit folgt, in der die Mächtigen unentwegt von Frieden und christlichen Werten tönten, während sie den Krieg als großes Geschäft betrieben, dann schrumpft die historische Distanz. Aber es wächst der Wunsch nach einem Roman, der die Kriegsgeschäfte unserer Zeit, die immer noch im Namen von Friedensmissionen und Menschenrechten geführt werden, mit gleicher Sprachkraft und Weltklugheit beschreibt.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser. Extradruck No. 296 & 297 der Anderen Bibliothek, 762 S., geb., 26 €.

Heiner Boehncke/ Hans Sarkowicz: Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor. Extradruck No. 323, 508 S., geb., 24 €.

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