Kommune mit Kirschgarten
»Utopia - was fehlt?« Stefan Ottenis Träume-Theater in Bamberg
Die Utopie ist ein gedanklicher Überschuss unseres Bewusstseins. Dieser Überschuss entzündet sich am Elend der Systeme. Aller Systeme. Gegen sie gilt: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Sagte in volksmundgerechter Sinnfälligkeit Goethe. Der so wenig Kommunist war wie alle Gattungsträumer vor ihm. Was überhaupt könnte das sein, Kommunismus? Traumspiel ohne Grenzen. Spiritueller Glanz überm Grau. Geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke.
»Utopia - was fehlt?« Es ist die Frage von Regisseur Stefan Otteni und Dramaturg Remsi Al Khalisi, sie collagierten am E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg eine dreistündige Revue aus weltliterarischem und tagesakutem Text, aus greller und gesetzter Musik und sehr turnerischer, tollender Lust. Sechs Schauspieler und die wunderbar wilde, vielseitige Musikerin Bärbel Schwarz: Turbulenz und Theorieversonnenheit zwischen Grips-Theater und Geschichtsstunde. Die Rot-Front-Faust fliegt, der Hirtenstab stützt, die Uniform strafft, das Glitzerkleid spielt schönen Schein.
Obwohl er selber nicht zu Wort kommt: Blochs Prinzip Hoffnung drängt herein. Und der Hinweis auf die Praxis und das Scheitern aller großen sozialen Ideen. Die Inszenierung will hoch fliegen, aber nicht über die Köpfe ihres Publikums hinweg. Sie spricht uns an, sie singt Kanon mit uns. Alphaville und Wagner, Bachmann und die Bibel, Morus und Malewitsch - ein flinker und frischesüchtiger, ein so flapsiger wie filigraner Rundkurs durch unser kühnes Wollen, das freilich fortwährend belehrt wird durch Wirklichkeit. Denn klar wissen wir, wie zu leben sei: träumen, wagen, kämpfen! Aber sieh dir die Seele doch mal im Spiegel an, wenn von deiner lockigen Lebenszeit eines Tages nur eine grausträhnige Frist blieb. Die Träume? Geblichen. Die Wagnisse? Eine bloß noch eitel klingende Anekdote. Die Kämpfe? Im Rückblick eine meist lächerliche Verausgabung.
Ach, wie du verändern wolltest! Wie du dich mit dem Furor der Unentbehrlichkeit in die Politik, ins Einmischen, ins Belehren und Bekehren anderer verstiegst! Und am Ende? Die Eingriffe finden, als ärztliche Reparaturpraxis, nur noch an dir selber statt. Und im Politischen ging dir doch nicht wirklich viel auf, nein, du hast merklich nichts gelöst. Utopie!, Sinn!, Gerechtigkeit!, Freiheit! - Zauberworte, erst gesungen, dann gesabbert. Leben, ein Aufbruch in den Abgesang. Und die Frage furchtsam gehaucht: Was bleibt? Grimms Tierkostüme auf der Bühne sagen’s: Nur im Märchen sind jene klug, die auf alles eine schöne, gute Antwort wissen.
Vom Bühnenhimmel war anfangs donnernd ein Hagel Bücher herabgewittert: Alles Gute und Gültige, alles Warnende und Wahre schon gesagt, ein erschlagend großer Berg Wissen und Wunsch, nur leider hat - so die Spieler - nie jemand zugehört. »Was denn, und deshalb den ganzen Scheiß - Lenin, Marx - noch mal von vorn?!« Ja, der Mensch ist das nachlässigste Geschöpf seiner schönen Fantasien; er bleibt verhängnisvoll gern an jene Möglichkeiten gefesselt, die das wahrhaft friedliche Leben unmöglich machen. Die ominöse Brüderlichkeit hat Klarnamen: Kain und Abel. Aber die schönträumerische Alternative wird an diesem Abend nicht ausgelassen, sie wird ausgelassen besungen, beschworen: auch mit einem Zeitsprung ins Jahr 2050 - zum Denkmal des unbekannten Bankers auf dem ehemaligen EZB-Gelände in Frankfurt am Main.
Der Mensch. Gandhi-like am Pilgerstock. Oder spielend mit Beuys’ Hase, einem Plüschtier. Oder bauchpolsterfett in Orgien der Nacktheit. Oder beim FDJ-Lied »Wir bauen einen schönen Garten« - zum Off-Ton die bloße, leblose Lippenmechanik der Spieler. Oder Arme strecken sich nach oben: »Auch ich bin in Arkadien geboren«. Dann Brahms: »Die Blümelein, mit Tränen rein/ hab ich sie all begossen.« Immer sucht Otteni die Balance, ist dem Ich-Überschwang so sehr auf der Spur wie den Überspanntheiten des Individualismus. Utopia! Es ist das große Zu-sich-Finden des Menschen. Aber letztlich eben nicht im Sinne jener kollektiv organisierten Erlösung in sozial befriedeter Gemeinschaft, sondern im Sinne dessen, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung.
Ronja Losert, Stephan Ullrich, Eric Wehlan, Marcel Zuschlag: sportlich und besinnungstief, ironisch und innig, kraftvoll und sensibel. Marie Nest mit perlender Singstimme, und Angelika Bartsch in einer grandios gesungenen, vollbärtigen Karl-Marx-Travestie: »Forever Young«. Der Klassiker mit Gehstock, den er am Ende übermütig von sich wirft. Die Trauer trifft den Trotz. Bergpredig und Kommunistisches Manifest. Ich denke an Martin Walser über den Beginn der Arbeiterbewegung: »Das Christentum aller Kirchenversionen war längst auf der Gegenseite: eine Lippengebetsreligion zur Ertötung aller praktischen Bedürfnisse - allein der Marxismus schien es ernst zu nehmen mit der Praxis.« Geschrieben gegen jene, die opportunistische Traumabsagen für das letzte Bildungserlebnis des Endzeitbürgers halten.
Zufällig lese ich am Tage jener Aufführung, die ich sah, einen Text von Slavoj Žižek in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Der slowenische Philosophenclown, was hat er nicht schon alles herbeigeschwätzt, er rief zur Reaktualisierung Lenins und der proletarischen Diktatur auf, labt sich an Stalin-Witzen und preist Paulus und den leidenden Gott, verwirft die liberale Utopie - und das in hoher verbaler Fließrate. Vor Wochen sagte er im »nd« noch: »wir Marxisten«, und auf die Frage, ob er an den Kommunismus glaube: »Ja, absolut. Nicht Sozialismus, sondern Kommunismus.« Und nun also in der NZZ: »Der einzige Weg, Treue gegenüber Marx zu bewahren, besteht darin, sich endlich vom Marxismus zu verabschieden ... Und Kommunismus ist nicht mehr der Name einer Lösung, sondern der eines Problems - des Problems der Gemeingüter in all ihren Dimensionen.« Wem, was soll man noch glauben?
Hölderlin sitzt mit Federkiel am Schreibtisch: »Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte.« Dies künftige Geschlecht wird bei Otteni, vor einer weißen Sonnenscheibe, zur Gestalt eines kalten scharfen Schattens, der schnarrend und schnappatmend verzückt zum modernen Rassisten wird und statt des Herrenmenschen die Herrenmaschine predigt. Produktivität? Die Erfindung des motorisierten Fahrzeugs verbannte einst die Pferde auf die Weide, das selbstfahrende Auto setzt ein neues Exil auf die Agenda: »Taxifahrer auf die Weide!«
Jeder erfährt täglich: Ich bin auch heute wieder hinter mir zurückgeblieben. Seltsam, dem Narkotikum Sehnsucht tut das keinen Abbruch. Sehnsucht wiederholt sich mit äußerstem Behagen, als gebe es keinerlei sie widerlegende Erfahrung. Keine Sehnsucht ist zu Ende zu bringen, ihre Kraft besteht in ihrem Spielcharakter, wir benötigen sie zur Unterhaltung unseres Begehrens: »Komm, komm, Grundeinkommen!«; dann Peter Lichts Freudensong, das Ende des Kapitalismus sei da; und der K.I.Z-Hit »Wir singen im Atomschutzbunker:/ Hurra, diese Welt geht unter!« Diese - oder die Welt überhaupt? In Abständen senkt sich die erwähnte runde Scheibe herab: lockend glühende Sonne Morgenrot oder auch gleißende Meteoritendrohung - davor jetzt die Menschen hocken, als lebten sie letzte Momente in Lars von Triers »Melancholia«.
Dem Theater Bamberg ist ein heiterer Abend der traurigen Wahrheit gelungen: Glaube an den Fortschritt in der Geschichte war stets auch ein verhängnisvoller Rückschritt in der Geschichte des Denkens. Und ein Abend aufmunternder Konsequenz: Man muss Geschichte gegen den Strich bürsten - so zerzausen wir ihr zwar das Fell, finden aber die Flöhe. So kommt die Inszenierung immer auch aus Zeiten, die nie ein Ende haben werden. Zeiten, in denen Gott, Liebe und Sinn so überzeugt ausgesprochen werden, als sei alles da - aber just dies vertreibt allen Bedürftigen Gott, Liebe und Sinn. Deshalb spricht Kunst die Dinge so anders aus.
Zu den ergreifendsten Szenen gehört eine Begegnung von Tschechows Menschen aus dem »Kirschgarten« - in der Bühnenmitte die beschnittene Birke, vorn an der Rampe der berühmte Kreisel der Langmut und der Langeweile - mit Leuten von heute. Gemeinsames Seufzen und Streiten: Wie nur wird sie sein - die Welt, die wohl bleiben wird, wie sie nie war?
Nächste Aufführungen: 30. Mai, 1. Juni
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