Ein Segen für Erdogan

Nach dem Ausnahmezustand ist die Türkei ein anderes Land

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Der blutige Putschversuch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 war noch nicht ganz niedergeschlagen, da nannte ihn Präsident Recep Tayyip Erdoğan ungeachtet der Toten einen »Segen Allahs«. Später hieß es, Erdoğan hätte darauf angespielt, dass sich die Anhänger des Sektenführers Fethullah Gülen bei dem Putschversuch zu erkennen gegeben hätten. Das hatten sie aber gerade nicht getan: Der Putsch scheiterte nicht zuletzt deswegen, weil die Putschisten nicht nur in den oberen Rängen des Militärs, sondern auch in der ganzen Gesellschaft kaum offene Unterstützung hatten.

Der Segen des Putsches für Erdoğan war vielmehr, dass er es ihm ermöglichte, den Ausnahmezustand zu verhängen und siebenmal zu verlängern. Erdoğan hat die Zeit des Ausnahmezustandes für einen Umbau von Staat und Gesellschaft genutzt, wie ihn auch die Putschisten - hätten sie gewonnen - kaum tiefgreifender hätten vornehmen können.

Schon an dem Tag nach dem Putsch und damit vor der offiziellen Verhängung des Ausnahmezustandes, wurde die Entlassung von 2745 Richtern durch den von Erdoğans Anhängern dominierten »Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte« bekannt gegeben. Offenbar hatte man die Liste schon lange vor dem Putsch vorbereitet. Auch zwei Richter am Verfassungsgericht waren betroffen. Das Verfassungsgericht wäre das einzige Gericht in der Türkei gewesen, das in einem Akt der Selbstermächtigung die 32 »Erlasse mit Gesetzeskraft«, die der Präsident während des Ausnahmezustandes herausgegeben hat, hätte kontrollieren können. Es hielt sich aber begreiflicherweise zurück.

Um Einsprüche des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg zu verhindern, wurde nach einigen Monaten eine Kommission eingerichtet, bei der Beschwerden gegen nach dem Ausnahmerecht getroffene Entscheidungen eingereicht werden können. Die Kommission ist völlig überlastet und ihre Neutralität fraglich. Von 135 000 Entlassungen aus dem Staatsdienst hat sie nur 4000 rückgängig gemacht. Aber weil es diese Kommission gibt, ist der Rechtsweg innerhalb der Türkei nicht ausgeschlossen, was Klagemöglichkeiten in Straßburg verhindert.

Man könnte meinen, nicht Teile der Armee, sondern Richter und Staatsanwälte hätten einen Putschversuch in der Türkei unternommen. In der Justiz wurden 27 Prozent des Personals entlassen oder inhaftiert, beim Militär sind es nur sieben Prozent. Doch nicht alle mutmaßlichen Gülen-Anhänger wurden aus der Justiz entfernt: Der Staatsanwalt Murat Inam, der wegen angeblicher Tätigkeit für Gülen angeklagt war, durfte im Amt bleiben und ein Verfahren gegen Journalisten der Zeitung »Cumhuriyet« durchführen. Beim Militär hätte man das wohl »Bewährung an der Front« genannt.

Ebenfalls hart getroffen wurden die Medien. 31 Fernsehsender und ebenso viele Radiosender wurden verboten, dazu mindestens 63 Tageszeitungen und Magazine. Seit dem 30. April 2017 ist Wikipedia in allen Sprachen in der Türkei gesperrt. Nach Angaben der Journalistengewerkschaft befinden sich derzeit 143 türkische Journalistinnen und Journalisten in Haft. Einige von ihnen wurden zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung verurteilt. Das heißt, sie sollen im Gefängnis sterben.

Soweit nur einige Auswirkungen des Ausnahmezustandes. In dieser Zeit wurde auch ein Referendum abgehalten, das dem Präsidenten ähnliche Macht wie einem Sultan verleiht. Außerdem wurden noch rasch vor dem Ende des Ausnahmezustandes die Präsidenten- und Parlamentswahl abgehalten und ein Gesetzentwurf ins Parlament gebracht, der wesentliche Züge des Ausnahmezustandes verewigen soll.

Der Rechtszustand der Ausnahmesituation läuft nun zwar aus, aber die Türkei wurde in dieser Zeit radikaler verändert als durch den Militärputsch 1980. Ob das wirklich eine göttliche Gnade für das Land ist, kann man bezweifeln.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -