Die Spur des Geldes

Arbeitssuchende Migranten und profitgierige Agrarmultis finden in Portugal zusammen

  • Leila Dregger
  • Lesedauer: 6 Min.

»Das ist ja wie zu Hause«, sagt Kiran. Die weißen Plastikplanen, unter denen der junge Nepalese 25 Tage pro Monat Himbeeren pflückt oder Minigurken verpackt, erinnern ihn an die Unterkünfte, die er und seine Familie nach dem großen Erdbeben 2015 beziehen mussten. Sein Vorarbeiter, ein Ukrainer, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will und der selbst einmal als Erntehelfer im Gewächshaus begann, hat keine Probleme mit den vielen Nationalitäten in seiner Schicht. »Die Asiaten arbeiten fleißig und vertragen die Hitze in den Gewächshäusern gut. Am besten funktioniert es, wenn ich die Nationalitäten mische.« Mit anderen Worten: Kein Geschwätz, schnellere Arbeit. Beschweren tun sich die Thailänder, Nepalesen, Bengalen und Pakistani ohnehin nicht. Besser ist es, mit der eigenen, bestenfalls halblegalen Situation nicht aufzufallen.

Wir befinden uns im Hinterland des Paradieses. Denn als solches gilt die Vizentinische Küste Südportugals, ein Naturpark mit spektakulären Wanderwegen, einsamen Stränden und pittoresken Felsformationen. Den Saum zwischen den Dünen und der einsameren Gegend dahinter bilden auf Dutzende Kilometer hinaus lange Reihen von Gewächshäusern und Folientunneln. Rund ums Jahr mildes Klima, reichlich Süßwasser durch die nahe Santa-Clara-Talsperre und patentierte Pflanzenstauden aus Kalifornien oder den Niederlanden machten den Landkreis Odemira seit rund zehn Jahren zum Eldorado moderner Agrokonzerne. Driscoll’s, Vitacress und andere multinationale Unternehmen bieten das Geschäftsmodell; die Farmen werden meistens von Niederländern, Briten oder Deutschen auf gepachtetem Land betrieben. So verwandelte sich die wirtschaftliche Wüste des Alentejo in einen florierenden Exportstandort für Cocktailgemüse, Topfplanzen und Beerenobst. »Nur, dass Portugal nicht viel davon hat außer verseuchter Böden und Küsten und eine soziale Zeitbombe«, merkt Ana Loeira vom Bloco Esquerda (Linksblock) des Landkreises an. Die ehemalige Lehrerin machte den Kampf gegen die Ausbeutung der Gastarbeiter zu ihrem Wahlkampfprogramm.

Portugal ist offen für Migranten

Die meisten Portugiesen wissen aus eigener Erfahrung, was Migration heißt. Fast alle haben Geschwister, Onkel oder Kinder, die in Zeiten von Diktatur und Armut ausgewandert sind. Jetzt soll aus dem Auswandererland ein Einwandererland werden. Deshalb möchte die Mitte-Links-Regierung im breiten Konsens aller Parteien gezielt Migranten einladen. Nicht nur Mitgefühl, sondern auch Kalkül sprach für diese Entscheidung: Mit Blick auf den demografischen Wandel und die durch Landflucht entleerten Regionen vor allem im kargen Süden sieht die Regierung in Flüchtlingen und Migranten eine neue Chance. Dörfer könnten wieder besiedelt, Schulen wieder ausgelastet werden, und Ausbildungsberufe fänden Nachwuchs.

Als die EU dem Land 4500 Flüchtlinge zuteilte, kündigte die Regierung unter Antonio Costa an, mehr, nämlich über 10 000 aufnehmen zu wollen. Damit steht Portugal an sechster Stelle der Länder, die im Rahmen des EU-Kontingentes Flüchtlinge aus anderen Ländern aufnehmen.

Nur: Sie kommen nicht. Bis Ende 2017 erreichten Portugal nur 1520 Menschen aus Syrien, Irak und Eritrea. Und davon sind über die Hälfte wieder abgereist. »Das liegt nicht nur daran, dass Portugal weniger wohlhabend ist«, glaubt Innenminister Eduardo Cabrita. »Wir haben eben keine eingesessenen syrischen oder irakischen Gemeinden, in denen die Menschen sich wohlfühlen würden.« Viele Syrer hätten Verwandte in Deutschland und möchten ihnen nachreisen. Auch die langsam arbeitenden Behörden gelten als Grund; manche Flüchtende warteten fast ein Jahr auf ihre Papiere; da verliert mancher das Vertrauen.

Bereits heute fördert die Regierung eine digitale Plattform, auf der Arbeits- und Weiterbildungsangebote auf Arabisch, Englisch und Portugiesisch präsentiert werden. Und Anfang Juli flogen Teams aus portugiesischen Zollbeamten und Migrationsexperten in die Türkei und nach Ägypten, um den Flüchtenden vor Ort zu informieren, was sie in Portugal erwartet.

Aktive Einwanderungspolitik spreche, so Umweltminister João Pedro Matos Fernandes, gezielt Studenten und qualifizierte junge Leute an, aber auch Landarbeiter und deren Familien. Die Regierung fördert auch Eigeninitiativen, zum Beispiel die des geflohenen Ingenieurs Fayez Karibeh aus Syrien. Mit einem Team aus Portugiesen und Syrern plant er den Aufbau eines ökologischen Dorfes bei Aljustrel im Alentejo: Hier sollen Flüchtlinge Wissen und Techniken für Nachhaltigkeit lernen können. led

Am Anfang des Agrarbooms fanden die Konzerne in der entvölkerten Region keine Arbeitskräfte, mit der sich der erwartete Gewinn realisieren ließe. Für den Mindestlohn von 3,36 Euro wollte trotz einer Arbeitslosenrate von zehn Prozent kaum ein Portugiese in den heißen Folientunneln arbeiten. Da kam die Erfahrung von Vermittlungsunternehmen aus Israel gerade recht. Firmeninhaber wie Roni Meluka von DFRM International hatten bereits in Israel Zehntausende von asiatischen Billiglohnkräften ins Land geholt, nachdem es dort mit palästinensischen Arbeitskräften schwieriger wurde. Jetzt nutzte er seine Kontakte für die Anwerbung von Asiaten nach Portugal. Mittlerweile sind viele Leiharbeitsfirmen aus dem Boden geschossen, wie »Grab Job« in Faro. Einige von ihnen werden von Nepalesen betrieben, die selbst vor einigen Jahren als Arbeiter ins Land kamen. Sie stellen die Arbeitsmigranten ein und leihen sie an die Agrarkonzerne aus. Auf den Mindestlohn schlagen sie 30-60 Prozent auf, was die Farmen zahlen und sich so Verantwortung und Ärger ersparen.

Der Nepalese Kiran, heute 27, stammt aus einem Bergdorf im Distrikt Solukumbu. Seine Familie besaß Land, Tiere und Ansehen im Dorf. Doch je moderner und globalisierter das Leben wurde, um so wichtiger wurde Geld; und so arbeiteten Kiran und seine Brüder schon als Jugendliche im Straßenbau und als Trekkingbegleiter. Eine Gruppe deutscher Bergsteiger beschließt, dem aufgeweckten jungen Lastenschlepper ein Wirtschaftsstudium in Kathmandu zu finanzieren. Kiran wähnt sich im Glück. Das Stipendium reicht sogar zum Heiraten, er hat eine Tochter. Doch dann kommt das Erdbeben, die Familie braucht Geld. Sein Vater spricht ein Machtwort. Der Sohn soll die Familie sofort unterstützen, nicht erst nach dem Studium. Und da das Wort des Vaters in Kirans Welt Gesetz ist, wirft er das Studium nach fünf Semestern hin, leiht sich Geld von Freunden und Familie, lässt Frau und Tochter zurück und bezahlt einer Schlepperorganisation 10 000 Dollar für einen Flug und ein Touristenvisum für Europa - ausgestellt vom italienischen Konsulat von Kathmandu. Einreise, so sagt es der Stempel in seinem Pass, ist der 2.2.2016.

Doch den Job in Mailand gibt es nicht. Kurz vor Ablauf des Dreiwochenvisums verschwindet Kiran. Er schlägt sich nach Portugal durch und taucht in der nepalesischen Gemeinde in Lissabon ab. Dort teilt er sich für 110 Euro Miete ein Bett mit einem Kollegen - nachts schläft er und tagsüber der andere - und sucht Arbeit. Bis er merkt, dass gut bezahlte Jobs in Restaurants zu den vielen Migrantenlegenden gehören, hat er seine Ersparnisse aufgebraucht. Die Familie macht Druck, und so sieht er letztlich keine andere Möglichkeit als die Gewächshäuser im Alentejo.

Portugal besitzt ein relativ liberales Aufenthaltsgesetz: Wer ein halbes Jahr arbeitet und Steuern zahlt, kann einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung stellen. Diese Regelung sollte es Bewohnern ehemaliger Kolonien erleichtern, in Portugal Fuß zu fassen. Für die Migranten bedeutet das ein halbes Jahr im Grauland der Halblegalität, in dem sie trotzdem schon arbeiten und möglichst Steuern zahlen - manchmal arbeiten sie sogar umsonst mit dem Wunsch, der »Residencia« näherzukommen.

Der Landkreis Odemira mit etwas mehr als 26 000 Einwohnern hat heute offiziell 3189 Ausländer aus fast 60 Ländern, das sind etwa zwölf Prozent. Real sind es aber mindestens 15 Prozent. In der Hochsaison brauchen allein die Obstbetriebe 4500 Pflücker.

Die Arbeitsmigranten haben das Gesicht der Region verändert. Bis vor zehn Jahren war dies eine Gegend, in der junge Leute wegzogen und alte zurückblieben. Schulen mussten schließen. Bauern gaben auf, Handwerker verloren Nachwuchskräfte und Restaurants Kundschaft. Mit den Ruinen und leer stehenden Häusern lässt sich heute wieder Geld verdienen: Zu viert oder sechst teilen sich junge Männer aus Nepal oder Frauen aus Thailand jeweils ein Zimmer, von wo sie morgens um halb sieben zur Arbeit abgeholt werden. Andere leben in Containersiedlungen oder campen einfach in der Nähe der Gewächshäuser. Die meist jungen Leute sprechen kaum Portugiesisch, nur etwas Englisch.

Eine Parallelgesellschaft ohne Berührung mit der portugiesischen Landbevölkerung ist das Schreckgespenst jeder Entwicklung. Die Kreisverwaltung steuert dem entgegen. Deolinda Seno Luís, Ratsmitglied von Odemira, setzt sich für Integration ein. »Die Immigration in den Landkreis ist kein Problem, sondern eine Chance. Sie stärkt die Dynamik der lokalen Ökonomie und die Entwicklung.« Sie weist auf neu eröffnete asiatische Supermärkte und Imbisse hin, auf die kulturelle Mischung in Cafés und Straßen.

Die Grundschule von São Teotonio gilt als eine der internationalsten Schulen Europas; einige der Kinder sehen zum ersten Mal eine Schule von innen. Eine Herausforderung für Lehrer, aber für einen Landkreis, wo Grundschulen wegen Schülermangels geschlossen wurden, auch eine gute Nachricht. Die Politikerin hat sich Integration zum Ziel gemacht. Die Lebensumstände der Arbeiter zu ändern, brauche Zeit. »Damit die Immigranten ihre Rechte wahrnehmen können, müssen sie sie überhaupt kennen und verstehen.«

Der Landkreis investiert jährlich 30 000 Euro für Feste der Begegnung, Sprachkurse, Beratung und Gelegenheiten zum Kennenlernen von Kultur, Musik und Küche der jeweils anderen Länder, die nach und nach die Barrieren aufbrechen sollen.

Für ihre politische Gegnerin Ana Loeira vom Linksblock gehen die Maßnahmen nicht weit genug. »Natürlich ist Integration das Ziel. Aber nicht unter den Bedingungen, die die Agrarindustrie uns aufdiktiert. Die Verwaltung tut zu wenig gegen die katastrophalen und unmenschlichen Lebensumstände der Menschen und die Naturzerstörung.«

Nach einem Jahr hat Kiran das erste Geld nach Nepal überwiesen, 300 Euro. Seine Schulden könnte er in etwa drei Jahren abgezahlt haben. Danach kann er anfangen, die Familie zu unterstützen - falls er die Belastung der Arbeit und der Trennung von zu Hause so lange aushält. Während seine Tochter ohne Vater aufwächst, schmieden die Agrarkonzerne von Odemira - Jahresumsatz 140 Millionen Euro - Pläne zur Verdoppelung ihrer Produktion.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.