Ein Lachen, eine Träne, ein Schlag in die Fresse

Ein Film porträtiert den Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 8 Min.

Es gibt die Helden und die Antihelden. Auf erstere ist die Gegenwart stolz, letztere sind ihr peinlich. Aber aus der Gegenwart wird Vergangenheit, die Helden werden vergessen, die peinlichen Antihelden, die in keine Gegenwart passen, jedoch nicht. Sie erzählen die wahre Geschichte unseres Lebens. Eine Geschichte aus Versagen, Enttäuschung, erlebten und begangenen Verrats, unerfüllter Sehnsucht und Scheitern. Das ist es, was bleibt. Alles andere ist Illusion und Trugbild.

Der Filmregisseur Andreas Dresen hat von Anfang an einen sicheren Sinn für solche Antihelden gehabt. Solche, die im Riss zwischen den Zeiten fast versinken, aber wie sie sich dagegen zu wehren wissen, das besitzt eben doch eine eindringliche Poesie, wie wir oft erst im Nachhinein bemerken. Mit seinem Spielfilm »Gundermann« knüpft er nun an seine frühen Werke der 90er Jahre an, wie »Stilles Land« mit Kurt Böwe und Thorsten Merten über die Wende in einem Provinztheater, das in seiner apathischen Existenz von der Welle der Vereinigungseuphorie fast hinweggespült wird. Aber damit auch an jene Melancholie, die das vereinigende Band der späten 80er Jahre der Endzeit-DDR bildete: Wir haben nur noch eine kurze Frist, lasst sie uns für wichtige Dinge nutzen. Ein morbides Refugium mit Heimatqualitäten.

»Gundermann« knüpft auch an zwei weitere Filme Dresens an, die mir sehr am Herzen liegen: an »Das andere Leben des Herrn Kreins« von 1994 mit Dietrich Körner und Reimar J. Baur, ein dramatisches Kammerspiel über Lüge und Verrat, das quer zur Aufarbeitungsmaschinerie der 90er stand und auf mediales Unverständnis stieß, wie auch an den Film »Raus aus der Haut« (1997) mit Otto Mellies, in dem - nach dem Vorbild von West-Terroristen - Ost-Schüler ihren Schuldirektor als Geisel nehmen. Auch dieser Film, als Anwendungsfall für eine Liedzeile von »Renft« (»Irgendwann will jedermann raus aus seiner Haut«), fiel ins Leere.

Gleiches ist von »Gundermann« nicht zu erwarten. Haben sich die Zeiten oder nur die Moden geändert? Plötzlich scheint der Antiheld Gerhard (»Gundi«) Gundermann sogar zum Liebling des Tages zu werden, was ja auch wieder verwirrt und in all der neu erwachten Euphorie ein bisschen misstrauisch macht. Zehn Jahre lang trug sich Andreas Dresen mit dem Gedanken, einen Film über den Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann zu machen. Das Projekt ließ sich schlicht nicht finanzieren. »Den kennt doch im Westen keiner!«, bekam er regelmäßig zur Antwort.

Nun ist der Film doch entstanden - und man kann sagen, er ist auf hinreißende Art kompromisslos. Denn er geht an die Wurzel jenes Widerspruchs, der einen bleibenden Schmerz verursacht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Regisseur für »Gundermann« wieder mit der Drehbuchautorin Laila Stieler zusammenarbeitete, die schon für »Stilles Land« das Drehbuch schrieb. Ihre Dialoge sind ebenso nüchtern wie pointiert, auf knappe Weise beredt.

Wer war eigentlich Gerhard Gundermann? Vieles, aber auf jeden Fall war er ein merkwürdiges Ost-Gewächs, das vor allem zu befremden vermochte. 1955 in Weimar geboren, wollte er nach dem Abitur Berufsoffizier (Politoffizier) werden, aber wurde wegen Befehlsverweigerung unehrenhaft entlassen. Er hatte sich geweigert, für den Armeegeneral Heinz Hoffmann ein Lied zu singen, mit dem Hinweis, das sei schädlicher Personenkult. Fortan arbeitete er in Hoyerswerda als Hilfsarbeiter im Braunkohletagebau, brachte es schließlich zum Baggerfahrer und zum Gründer der »Brigade Feuerstein«, die ins FDJ-Bild der kritisch-klassenbewussten DDR-Jugend passte. Gundermann vereinigte schon damals den Tschekisten und Staatsfeind in sich, arbeitete bis Anfang der 80er Jahre als IM »Grigori« für die Staatssicherheit, wurde dann jedoch selbst zu einem Objekt der Observation. Ein linientreuer Dissident oder schlicht ein Querulant?

Der schmal-blasse, geradezu spillerige, ewig missionierende Gundermann mit großer Brille und gewaltigen Schneidezähnen, die an ein belesenes Nagetier denken ließen, war nicht gerade der Typ, auf den die Fans fliegen, weder die weiblichen noch die männlichen. Überall Mauern, aber davon ließ er sich nicht beeindrucken. Er lebte und dichtete in seinen Widersprüchen, in denen er jene des Landes erkannte, in dem er lebte. 1996 wurden die letzten Bagger seiner Grube verschrottet, es war vielleicht der traurigste Tag im Leben Gundermanns, für den der Lärm und die Isolation auf dem riesigen Schaufelradbagger immer einen Schutzraum gebildet hatten, in dem er schreiben und sogar singen konnte, ohne dass ihn jemand störte. Nur ein Auftrittskünstler und kein Arbeiter mehr zu sein, das konnte er sich nicht vorstellen. Am Verlust seines Baggers starb er wohl dann auch - 1998 ganz plötzlich an einer Hirnblutung.

Und plötzlich wurde klar, wie viel Traurigkeit, wie viel Todesahnung in seinen Liedern immer schon war: »Ich habe keine Zeit mehr / Ich nehm’ den Handschuh auf / Ich laufe um mein Leben und gegen / Den Lebenslauf«. Zeugnisse einer verlorenen Generation, für die Gundermann stellvertretend bekennt, er habe auf das richtige Pferd gesetzt, das verloren habe?

Dresen geht mitten hinein mit einer Großaufnahme. Ohne jeden moderierenden Anfang, ein minutenlanges Solo mit dem Lied »Gras«: »Immer wieder wächst das Gras / Wild und hoch und grün / Bis die Sensen ohne Hass / Ihre Kreise zieh’n.« Es ist jene Szene, in der Gundermann nach der Trennung von der Brigade Feuerstein, die ihm zu laienhaft geworden war, nach neuen Musikern suchte, die ihm auf seinem Weg ins Unbedingte folgen wollten. Der Journalist Hans-Dieter Schütt, der im Film als Gundermann-Interviewer einen Kurzauftritt hat, versammelt in seinem Buch »Tankstelle für Verlierer« seine kurz vor Gundermanns Tod mit ihm geführten Gespräche. Ein Minenfeld von Utopie und Ideologie, Wahrheit und Lüge. Ein Kampfgebiet, das der Liedermacher zu befrieden versuchte - zuerst in sich selbst.

Wie Gerhard Gundermann der Motor seiner »Seilschaft« war (so lautete der bewusst provokante Nachwendename der Band, die mit ihm bis zum Schluss spielte, trotz der IM-Vorwürfe), ist Alexander Scheer der Motor von Dresens »Gundermann«-Film. Ein Ereignis an Intensität und Einfühlung. Wenn er singt, tut er das mit leichtem Rio-Reiser-Einschlag.

Dresen setzt an einem neuralgischen Punkt ein: Die Konfrontation mit den plötzlich auftauchenden Stasi-Vorwürfen werden zur Konfrontation Gundermanns mit sich selbst. Was ist wahr, was gelogen am eigenen Selbstbild? Der Film wird zur Reise des Gerhard Gundermann und damit auch des Landes, in dem er lebte, zu sich selbst. »Hier bin ich gebor’n / Wo die Kühe mager sind wie das Glück / Hier hab’ ich meine Liebe verlor’n / Und hier krieg’ ich sie wieder zurück.« Man denkt an Walter Benjamin, der sagte, man müsse das, was in der Geschichte voreilig an Lebendigem begraben wurde, wieder aus der Erde befreien. Eine Arbeit für Baggerfahrer?

Der Film »Gundermann« zeigt, was diese Biographie vor allem prägte: die Utopie eines nicht entfremdeten Lebens. Der so maßlos wirkende Gerhard Gundermann, dem der grandiose Alexander Scheer die Züge eines Ekstatikers gibt, wollte im Grunde nichts anderes als das einfache Leben. Wie anspruchslos man im Äußeren sein konnte, wenn man andererseits so unstillbar unbefriedigt blieb wie Gundermann, das verblüfft heute am meisten - wo wir uns doch zumeist so vollständig dem Takt von Zeit und Verwertung unterworfen haben. Wer ist denn der eigentliche Verräter seiner Kindheitsträume? Der sie realisierend zurücklässt oder der in ihnen lebenslang feststeckt?

Dresen ist mit »Gundermann« vielleicht sein wichtigster Film gelungen: Er erklärt die DDR-Geschichte auf eine Weise, die zur Selbsterkenntnis von Ost und West gleichermaßen führen könnte - jenseits aller Rechthaberei. Über jenen Osten, den grauen und hässlichen, den in vielen Dingen rückständigen, der offenbar doch etwas an sich hatte, was die in ihm Aufgewachsenen heute vermissen, trotz all der vielen angenehmen Dinge, die sie nun besitzen, ist lange beharrlich geschwiegen worden. Wer über Verluste sprach, wurde als »ostalgisch« denunziert. Dabei war es doch jener Sinn für die große Wunde, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neubeginn in einem »anderen« Deutschland nicht nur wünschenswert, sondern notwendig machte. Dass die DDR 1989 dann gerade am starrsinnigen »Weiter so« zugrunde ging, ist eine makabre Pointe der Geschichte.

»Gundermann« ist auch eine Liebeserklärung an den Arbeiter, der einmal etwas anderes war als ein »Arbeitnehmer«. Ich denke an Georg Maurers Epos »Das Unsere«, das anhebt mit den Worten »Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen«. Wir erkennen plötzlich die Schönheit der Schaufelradbagger, bevor wir ihre Naturzerstörungskräfte kritisieren. Gemeint ist eine Arbeit, die mehr ist als bloß Selbstverwirklichung, nämlich Selbstwerdung durch nichtentfremdete Arbeit, die zum Motor einer wahrhaft freien Gesellschaft wird. Das ist zugegebenermaßen jene Utopie des kommunistischen Eigentumsverhältnisses, von dem Marx schrieb. Wer sie zu leben versucht, verstrickt sich folgerichtig in unlebbare - aber darum nicht unsinnige - Widersprüche.

In der Geschichte wohnen jene Dramen, die dem Leben erst ihr Gewicht geben. Gundermann dazu: Wenn es die Idee des Kommunismus nicht schon gegeben hätte, wäre er selbst darauf gekommen. Man kann es auch so wie er sagen: »Von jedem Tag will ich was haben / Was ich nicht vergesse / Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne / Ein Schlag in die Fresse«.

GUNDERMANN - Trailer (HD)

»Gundermann«, Deutschland 2018. Regie: Andreas Dresen. Darsteller: Alexander Scheer, Anna Unterberger, Axel Prahl, Thorsten Merten. 127 Min. Ab morgen in den deutschen Kinos.

Hans-Dieter Schütt: Tankstelle für Verlierer, Gespräche mit Gerhard Gundermann. Dietz Berlin, 176 S., 12 €.

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