Kampf oder Krampf mit Klampfe?
Eine Debatte über Rockmusik, Rebellion und freie Liebe mit einem wortlosen Siddhartha Langhans
Wie der Erleuchtete dero selbst erschien er: Rainer Langhans, Mitbegründer der legendären Westberliner »Kommune 1«. Lag es daran, dass der in der Mitte des Podiums sitzende, gebürtige Oscherslebener, der in seinem allerersten Leben in Jena Jungpionier war, von einem Spotlight mit besonders hoher Wattleistung angestrahlt wurde? Oder weil sein typisches strahlend weißes Leinenoutfit das Licht reflektierte, dagegen die anderen, dunkler gekleideten Damen und Herren in Halbschatten versanken? Siddhartha Langhans zog jedenfalls die Blicke aller auf sich, obwohl er am wenigsten sagte und mitunter zu meditieren schien, geistig abwesend.
Mit einer Debatte über »Rockmusik, Rebellion und freie Liebe« eröffneten die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Deutsche Gesellschaft die zweite Runde ihrer diesjährigen Veranstaltungsreihe »Das doppelte 1968: Hoffnung - Aufbruch - Protest«. Den Auftakt machte Peter Wurschi, Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt, der sich auf die Ereignisse in der DDR fokussierte. Sein mit Videoeinspielungen gewürzter Impulsvortrag offerierte zunächst die gern und oft zitierte Äußerung von Partei- und Staatschef Walter Ulbricht auf dem 11. (Kultur-Kahlschlag-)Plenum des ZK der SED von 1965: »Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.« Dies könne man nicht lediglich als Irritation eines alten Mannes abzutun, so Wurschi. Er begründete das mit dem Verweis darauf, dass die ostdeutsche Gesellschaft nach 1945 im Gegensatz zur westdeutschen tatsächlich revolutioniert, avantgardistisch umgekrempelt, modernisiert worden ist, weshalb der Sozialismus einen gewissen Reiz ausstrahlte. »Das Emanzipationsversprechen wurde dann aber nicht eingelöst.« Es begann bereits mit den »Zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik«, die 1963 gar in das Parteiprogramm aufgenommen wurden: Der sozialistische Mensch sollte sich hüten, vom tugendhaften Pfad abzuweichen. 1965 übernahm das Zentralorgan »Neues Deutschland« gar - »das erste und einzige mal in seiner Geschichte« - eine Schlagzeile aus der »Bild«-Zeitung zu einem Konzert in der Waldbühne. »Sogenannte Gammler sahen sich in Ost und West einer breiten Hetzkampagne ausgesetzt«, konstatierte Wurschi, der als weiteres Beispiel eine Bildergeschichte in der Kinderzeitung »Bummi« anführte, die bereits die Jüngsten lehren sollte, wie ein braves Kind auszusehen habe.
Offizielle Vorgaben kollidierten mit den Sehnsüchten und Wünschen der Jugendlichen, wie eine Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig 1968 bewies, die Fotos von drei jungen Männern zeigte: einen FDJler mit adrettem Haarschnitt, einen »Pilzkopf« und einen steifen Zivilisten mit Krawatte. Über die Hälfte der Probanden votierte für den »Pilzkopf« als modern und zeitgemäß. Und trotz Ulbrichts Yeah-Yeah-Yeah-Speech wurden auch in der DDR Beatles-Platten gepresst, die Rolling Stones gehört und die Blues-Fans stetig zahlreicher. 1968 schrieb Ulrich Plenzdorf »Die neuen Leiden des jungen W.« (Erstveröffentlichung als Buch: 1973), in dem sich der bis 1989 die DDR-Jugend begeisternde Satz fand: »Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen.« Alles, was im Westen passierte, passierte früher oder später auch im Osten, so Wurschi. Konträr zur Bundesrepublik waren indes 85 Prozent der jungen Rebellen Arbeiter, nur knapp fünf Prozent Studenten. Während ’68 im Westen einen Aufbruch markierte, stand die Chiffre im Osten für Abbruch. »Prag ernüchterte, und dennoch hielt der Reiz eines anderen Sozialismus an.« Es verwundert nicht, dass die Aktivisten und Protagonisten von 1989 vielfach ostdeutsche Achtundsechziger waren.
Nach dieser Erhellung verfiel die Debatte in den der Bundesstiftung inhärenten antikommunistischen Geist. Dafür hat man Katja Lange-Müller eingeladen, die 1967 von einer Ostberliner Schule wegen »unsozialistischen Verhaltens« relegiert worden war. Nur, weil sie Ulbricht imitiert hatte. Die Publizistin beschwerte sich über westdeutsche »Genossen - die bestenfalls unsere Altersgenossen waren - und uns propagierten, wir sollten froh sein, in der DDR leben zu dürfen. In diesem Gefängnis!«. Lange-Müller versicherte dem Publikum: »Das ging uns am Arsch vorbei.« Auch Rudi Dutschke bekam sein Fett ab von der Zeitzeugin, deren Freundeskreis einst die Toten in Vietnam mit jenen an der Berliner Mauer und in Prag nach der Invasion gleichsetzte. Wie sie konnte auch Langhans in der 68er Bewegung und deren »kümmerlichen Überresten« nichts Positives erkennen. »Der Vietnamkongress hat bereits bestätigt, wie kaputt die deutsche Bewegung war«, meinte er und sang ein Loblied auf das Jahr ’67, das Jahr der Kommune und den Summer of Love. Sodann ließ er wissen, dass man nicht reden könne, über das, was damals war, gefühlt und erlebt wurde. »Es gibt keine Worte dafür, wir sind noch heute wortlos.« Mit seiner grenzenlosen Begeisterung für das grenzenlose Medium Internet machte Langhans hernach seine Gesprächspartner sprachlos, die ihn als sinnlichen Menschen kennen. Worauf er sie belehrte, dass die von ihm und den Seinen gelebte freie Liebe eine »körperlose«, immateriell, war.
Wie auch immer, den harschen Verdikten von Langhans und Lange-Müller widersprach Axel Schildt, emeritierter Professor der Universität Hamburg. Er betonte die politische Konation und den politischen Kontext der 68er. Schildt war damals Sprecher im sozialistischen Schülerbund: »Wir waren begeistert von Rudi Dutschke und freuten uns über ein Telegramm von Ernst Bloch, der uns ermunterte. Wir hatten zwar wenig Kontakte in die DDR, hörten aber DT 64 und den Deutschen Freiheitssender 904 der verbotenen KPD, die viel Rock und Pop brachten.« Schildt nutzt zur Charakterisierung von »68« eine Metapher: »Rockmusik und Rebellion gingen eine Kernfusion ein.«
Für die Journalistin Barbara Sichtermann wiederum, deren Bruder Bassist bei der Band Ton Steine Scherben war und ist (und im Publikum lauschte), war 1968 ein »tragisches Jahr« - mit der Ermordung von Martin Luther King, dem Attentat auf Rudi Dutschke und dem Einmarsch in Prag. Sie stimmte Lange-Müller zu, »die DDR war eine gewaltgestützte Diktatur, der Sowjetimperialismus so schlimm wie der US-Imperialismus, mit dem Osten hatten wir nichts am Hut«. Sie schloss sich aber auch Schildt an: »Politik und Rock und Pop gehörten für uns zusammen, das war unser Kampf, auch wenn man heute dazu eher Krampf sagen würde.« Nun, das ist die Frage. Das, wofür die Chiffre »68« steht, war halt heterogen.
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