Tage des Menschenaufstands

Saisoneröffnung in Halle (Saale) mit Verdi, dem Ballett »Bizarr« und »Nackt über Berlin«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Florian Lutz baut beim Start in das dritte Jahr seiner Intendanz in Halle auf die Wirkung der neuen Raumbühne. »Babylon« heißt sie. Durch die Überbauung des Parketts und den auf der Bühne errichteten mehrstöckigen Zuschauergalerien büßt die Oper zwar einige Plätze ein, aber das Orchester bildet jetzt gut hörbar das Zentrum des Geschehens.

Beim Auftakt mit Verdis »Messa da Requiem« koordiniert Christopher Sprenger so eindrucksvoll die Musiker der Staatskapelle, das fabelhafte Solisten-Quartett (Romelia Lichstenstein, Svitlana Slyvia, Ki-Hyun Park, Eduardo Aladrén) und den auf 70 Köpfte aufgestockten Chor. Weil die Zuschauer zum Teil die Sänger in Tuchfühlung erleben, überträgt sich auch die Wucht von Verdis Musik direkt. Spätestens, wenn das »Dies irae« losdonnert, verlässt Verdi ohnehin den Konsens üblicher sakraler Andacht. Seine Tage des Zornes machen Angst, könnten aber genauso ein Aufschrei der Rebellion sein. Hier will ein großer Musiker nicht nur auf eine christliche Endzeitvision hinaus, sondern liefert den subtilen Zweifel am Heilsversprechen der Kirche gleich mit. Die Zuschauer werden in eine postapokalyptische Vision des Untergangs der Menschheit hineingezogen, in der die Affen die Reste der menschlichen Zivilisation vereinnahmt haben. Die vier Solisten sind Überlebende, die zwischen Müll, im Labor oder in der Wildnis des urbanen Dschungels überlebt haben.

Bei den Affen ist der Kampf um die Macht im vollen Gange und es geht - wie in der Bibel - nicht ohne Brudermord ab. Wer überleben will, muss sich (auch als Zuschauer) als Affe tarnen und auf die Rückeroberung des Planeten hoffen. Zum »Lux aeterna« dann gelingt der Menschenaufstand - die Masken fallen, am Ende kehren die Menschen als Klone ihrer selbst aus dem Untergrund zurück. Zum »Libera me« (Befreie mich) zelebrieren die Menschen ihre banalen Smartphonewünsche, doch sie bleiben allein mit sich - ohne Hoffnung auf Erlösung und ein höheres Wesen - gefangen im Egoismus, angetrieben von Neoliberalismus und Hedonismus. Dieses metaphorische Fragezeichen am Ende ist ein hoher Ertrag nach einem ungewöhnlichen Mitmachabend in der Oper!

Mit seinem Ballett »Bizarr« setzte Michal Sedláček mit der zweiten Premiere in der Raumbühne mehr auf ein melancholisches Nachdenken über den Lauf der Zeit. Die opulenten, auf barocke Mode anspielenden Kostüme machen die Tänzer und Tänzerinnen zu Zeitreisenden, die aus der Vergangenheit in eine postapokalyptische Zukunft versetzt wurden. Und zur Musik von Bach, Pachelbel und Peter Gabriel zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Todesgewissheit und Lust an der Schönheit des Lebens vagabundieren. Das ist gut gemacht.

Dass gut gemeint, nicht immer gut gelungen bedeutet, erwies sich ausgerechnet mit der Theaterversion des kultverdächtigen Romandebüts »Nackt über Berlin« von Axel Ranisch. Zwei Heranwachsende auf dem Weg zu sich selbst: Bei der wie ein Streich beginnenden Entführung ihres besoffenen Schuldirektors und die erzwungene Lebensbeichte, erschreckt zumindest der Jannik vor dem, wozu sein angehimmelter Freund Tai und er fähig sind. Sie erzwingen vom festsitzenden Lehrer das Eingeständnis einer Mitschuld am Suizid einer Schülerin.

Die Balance zwischen Sprachwitz, Pointenfeuerwerk und Psychothriller, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lassen, kann die Chefdramaturgin des Schauspiels Henriette Hörnigk aber nicht in die Raumbühne hinüberretten. Die Zuschauer sitzen bei dem Stück auf einer Drehscheibe und der große Rest wird zur Bühne. Doch an die Filmbilder und die Charaktere, die beim Lesen vom Roman von Ranisch mühelos entstehen, kommen weder die Darsteller noch der Versuch, alles möglichst exzessiv und klamottig unterzubringen, nicht heran.

Diesmal liefert das Schauspiel Halle eher ein Argument gegen die Mode, Romane zu Stücken zu machen. Babylon und Halle bleiben aber weiterhin spannend.

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