»Ich knapse am Schlaf«

Anthony Reichel, Bäckerlehrling und Kommunist, über politisches Engagement nach einer Nachtschicht, Akademikerüberhang in der Linken und gute Brötchen

Zum Gespräch in einem Café in Chemnitz kommt Anthony Reichel ein paar Minuten zu spät angehetzt, direkt aus der Bäckerei. Es ist Mittag, kurz nach halb eins. Seit nachts halb drei hat er in der Backstube gestanden. Und die Schicht ist eigentlich noch nicht zu Ende.

Es ist Stollenzeit. Da muss man Überstunden machen.

Klingt anstrengend.

Muss man eben mehr Kaffee trinken. Aber klar, November, Dezember, Januar schlauchen am meisten. Man fängt am zeitigsten an und hört am spätesten auf und lebt eigentlich immer nur im Dunkeln.

Den Stress wollen sich immer weniger junge Leute geben. Bäcker klagen über mangelnden Nachwuchs.

Das ist Jammern auf hohem Niveau. Es fangen eigentlich genug die Lehre an. Aber gerade in größeren Bäckereien tendiert man dazu, Auszubildende als billige Arbeitskräfte auszunutzen. Zehn-Stunden-Tage ohne Pause, allein in der Filiale ohne Ausbilderkontakt. Unter solchen Bedingungen hat man natürlich keine Lust auf die Arbeitszeiten und magere 640 Euro im dritten Lehrjahr.

Eigentlich ist es ja so, dass die Arbeitsbedingungen nicht in den großen, sondern in kleinen Betrieben besonders schlecht sind.

Bei mir nicht. Ich lerne ja in einem kleinen Familienbetrieb. Da packen gerade alle mit an. Der Chef in der Backstube, die Chefin vorne im Verkauf. Das war bei meiner Kondi-Lehre anders.

Kondi?

Konditor. In einer Großbäckerei. Da hab ich am Ende meines zweiten Lehrjahres ernsthaft gezweifelt, ob ich den Beruf wirklich weitermachen will oder doch nochmal die Schulbank drücke und irgendwas studiere. Ich habe mich dann für einen Ausbildungswechsel entschieden und mir diesen ganz, ganz kleinen Bäcker gesucht, wo ich jederzeit ansprechen kann, wenn irgendwas blöd läuft.

Was war das Problem im Großbetrieb?

Ich hab tagein tagaus dasselbe gemacht.

Nämlich?

Biskuitmasse aufstreichen.

Mehrere Wochen lang?

Jahre.

Gab es keinen Ausbildungsplan?

Doch, den gab es, den kontrolliert nur keiner. Es gab ja auch keinen Betriebsrat. Deshalb wäre es ganz gut, wenn die Handwerkskammer ab und zu mal nachschauen würde, ob die Lerninhalte wirklich vermittelt werden. Ich habe erst bei meiner Zwischenprüfung festgestellt, dass ich von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Von meiner Chefin habe ich daraufhin nur zu hören bekommen, dann musst du eben nach der Arbeit üben.

Und jetzt lernen Sie mehr?

Bei meinem jetzigen Bäcker bekomme ich meistens drei Stunden am Tag etwas beigebracht. Es steht jemand neben mir oder in der Nähe, zeigt mir etwas oder übt mit mir Sachen.

Was macht ein gutes Brötchen aus?

Es sollte eine gesunde orangebraune Farbe haben, luftig sein und in einer Papiertüte verpackt am nächsten Tag noch verzehrbar sein.

Und der Preis?

Bei uns kostet ein doppeltes Brötchen 55 Cent. In der Großbäckerei, eine Aktien-AG, in der meine Freundin im Verkauf arbeitete, auch. Der Unterschied ist: Bei uns bleiben etwa 20 Prozent Gewinn hängen, bei einem Großbetrieb ungefähr 50 Prozent. Der Lohn der Beschäftigten ist derselbe. Das finde ich ungerecht.

Sie engagieren sich politisch. Wie schaffen Sie das bei Ihren Arbeitszeiten?

Das ist gar nicht so schwierig. Am Mittag schlafe ich noch mal zwei, drei Stunden und habe dann Zeit für jeglichen anderen Firlefanz.

Aber doch wahrscheinlich nicht viel länger als bis 19 Uhr, wenn Sie nachts um halb zwei schon wieder aus dem Bett müssen ...

Eher zwischen acht und neun. Ich fände es sehr schade, wenn ich aufgrund meiner Arbeit nicht mehr politisch aktiv sein könnte. Irgendwo muss man Abstriche machen. Ich knapse am Schlaf.

Aber politische Veranstaltungen fangen doch meistens erst gegen acht an.

Bei uns nicht. Der Ortsverband trifft sich spätestens 17 Uhr. Meistens aber gegen 15.30 Uhr.

So früh? Wie geht das?

Durch Solidarität halt. Wir versuchen hinzukriegen, dass alle an den Treffen teilnehmen können. Es gibt nicht so viele Aktive im mittleren Alter, die nur abends können. Einige nehmen sich aber auch extra frei. Irgendwie geht das. Manchmal sage ich natürlich auch, sorry, geht nicht. Muss am nächsten Tag früh raus. Glücklicherweise verstehen das die Genossen.

Vereinbarkeitsprobleme gibt es bei Ihnen also gar nicht?

Naja, beides zusammen ist durchaus manchmal schlauchend. Aber ich habe den Vorteil, dass ich mich nicht auch noch zwischen Familie und Politik entscheiden muss. Ich stamme aus einer politischen Familie. Meine Mutter ist Krankenschwester, mein Vater Bundespolizist - 2006 in die LINKE eingetreten. Wenn ich zum Kreisparteitag fahre, sind mein Vater und meine Freundin immer mit dabei. Das ist ein Luxus.

Es gibt unter linken Aktiven nur wenige wie Sie: Vater Polizist, Handwerkerlehre ...

Ja, die Linke ist ein großer intellektueller Haufen. Leider.

Stört Sie das?

Nein, dadurch, dass ich mit meinen Händen Wertschöpfung betreibe, fühle ich mich hier richtig aufgehoben. Ich will mich nicht ausbeuten lassen und finde nicht, dass uns Ausländer die Arbeitsplätze wegnehmen. Als Problem sehe ich nur, dass die Linke ja eigentlich die arbeitende Bevölkerung ansprechen sollte. Da ist es dann blöd, wenn man um den heißen Brei drumrum redet.

Diese Frage wird in Ihrer Partei ja gerade heftig diskutiert. Vernachlässigt die Linke die soziale Frage?

Das würde ich nicht sagen. Aber wir thematisieren das Grundübel zu wenig.

Nämlich?

Wir sagen zu wenig, der Kapitalismus ist scheiße. Und eine Partei sollte anderen nicht erzählen, welche Probleme sie haben, ohne ihnen zuzuhören. Deshalb finde ich es blöd, wenn so viele Leute im Parlament sitzen, die bislang nur Geburtssaal, Schulsaal und dann vielleicht noch einen Vorlesungssaal kennen. Wer noch nie wirklich lohnabhängig gearbeitet hat, kann bestimmte gesellschaftliche Zustände nur schwer nachvollziehen. Gerade so einen Typen wie Jens Spahn würde ich gern dazu verdonnern, mal einen Monat von Hartz IV zu leben und dann drei Monate in der Pflege zu arbeiten.

Was wollen Sie nach Ihrer Lehre machen? Weiter Brötchen backen?

Mein Langzeitplan sieht so aus: nach der Lehre zwei Jahre fest angestellt arbeiten, parallel meine Kondi-Ausbildung abschließen und dann noch einen Meister.

Um selbst einen Laden zu führen?

Nein. Ich möchte einen eröffnen, aber selbst keinen führen. Da kommen die politischen Überzeugungen und das Handwerkliche zueinander: Ich möchte kein Ausbeuterunternehmen aufbauen, sondern eine Genossenschaft gründen. Alle sind Miteigentümer und haben am geschäftlichen Gewinn teil. Das möchte ich versuchen.

Es gibt nur wenige linke Sprüche übers Essen: Ohne Mampf kein Kampf, ist mir eingefallen. Und natürlich: Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei. Sagt Marx etwas dazu?

In diesem Fall sagt Marx mal gar nichts.

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