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Organisierte Leistungsverweigerung
Beratungsstellen und Betroffene verwahren sich gegen einen pauschalen Betrugsverdacht gegen EU-Migranten
Viele Arbeitskräfte, die in Deutschland Tiere schlachten und Fabriken putzen, alte Menschen pflegen oder Spargel stechen, stammen aus einem anderen Land der Europäischen Union. Oft sind es harte, schlechte bezahlte Jobs, die Deutsche nicht mehr machen wollen. Doch geraten diese Migranten in eine Notlage, werden sie krank oder arbeitslos, beantragen sie einen Mietzuschuss oder Kindergeld, schlägt ihnen von Sachbearbeitern ein pauschaler Betrugsverdacht entgegen, kritisieren Beratungsstellen und Betroffenenorganisationen. In dieser Woche machen sie mit Aktionen in verschiedenen deutschen Großstädten auf den zunehmenden Ausschluss von existenzsichernden Leistungen aufmerksam.
Eine Reihe von Verschärfungen ist bereits beschlossen worden. Seit 2016 dürfen EU-Bürger erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe beantragen. »Nun soll auch noch die Axt ans Kindergeld gelegt werden«, sagt Claudius Voigt, der in Münster in der Migrations- und Flüchtlingsberatung tätig ist. Am Donnerstag berät der Bundestag zum ersten Mal über einen Gesetzentwurf »gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch« aus dem Hause von SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Dieser sieht neben der Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit einen Ausschluss von nichterwerbstätigen Unionsbürgern von der Kindergeldzahlung in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts vor. »Die Einschränkung wird zu einer noch stärkeren Prekarisierung führen«, prognostiziert Voigt. Der Sozialarbeiter formuliert es drastisch: »Menschen werden durch Verweigerung sozialer Rechte ausgehungert.«
Nach der Statistik der Familienkassen zahlte der deutsche Staat im vergangenen Jahr 37 Milliarden Euro Kindergeld aus. Davon wurden 402 Millionen Euro ins Ausland überwiesen.
Rund 252 000 Kinder von EU-Ausländern bekommen Kindergeld. Die mit Abstand größte Gruppe sind polnische Kinder (rund 124 000). Oft pendeln die Eltern zwischen den Ländern zur Arbeit - der tschechische Arzt ins Provinzkrankenhaus in Sachsen, die Putzkraft aus Polen nach Berlin.
Die Kindergeldzahlungen ins Ausland haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, weil auch deutlich mehr Menschen aus anderen EU-Ländern nach Deutschland gekommen sind. Sie folgen dem Arbeitskräftebedarf auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Seit Inkrafttreten der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit im Jahr 2014 kommen auch mehr Menschen aus Bulgarien und Rumänien. nd
Bislang wird diese Familienleistung unabhängig vom Status der Eltern gezahlt. Erst im Februar bekräftigte der Europäische Gerichtshof, dass alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ein Recht auf Kindergeld in einem anderen Mitgliedsland haben, wenn sie dort ihren Wohnsitz haben - auch wenn die Kinder weiterhin im Herkunftsland leben und auch wenn die Eltern arbeitslos werden.
Nach dem Regierungsentwurf sollen die Familienkassen zudem künftig zu Kontrollinstanzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit werden. In »begründeten Zweifelsfällen« dürfen sie laufende Kindergeldzahlungen vorläufig einstellen. Die Bundesregierung will mit diesen Maßnahmen »den Missbrauch im Kindergeldbezug eindämmen«. Konkrete Zahlen dazu liegen ihr allerdings nicht vor. Auf nd-Nachfrage verweist das Finanzministerium auf die Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage der AfD. Darin hatte die Bundesregierung im Februar erklärt, dass über den Einzelfall hinaus nicht erfasst werde, warum Familienkassen Geld zurückfordern oder gegen wen Anzeige wegen Verdachts auf Sozialleistungsbetrug gestellt wurde. Medien und Politik schüren dennoch die Debatte über »wachsenden Sozialbetrug«.
Beratungsstellen zeichnen ein anderes Bild: »Viele Migranten verdienen mit ihrer Arbeit eigentlich so wenig, dass sie Anspruch auf ergänzende Grundsicherung hätten. Aber aus Angst vor den Behörden verzichten sie von vorn herein auf Anträge«, berichtet Michael Bättig von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, die auch Migranten zum Jobcenter begleitet. Insbesondere die Kooperation der Sozialämter mit der Ausländerbehörde schüchtert ein. Denn die kann die Freizügigkeit entziehen, wenn man keine Arbeit nachweisen kann, was nicht selten am Fehlen eines ordentlichen Arbeitsvertrags liegt. Mit Plakaten in acht Sprachen macht die Erwerbslosengruppe in dieser Woche Werbung für ihr Angebot von Beratung und Begleitung beim Gang zum Jobcenter.
»EU-Bürgerinnen und -Bürger müssen in Jobcentern besonders viele Nachweise erbringen, die für sie oft schwer zu beschaffen sind«, berichtet Lisa Riedner vom Netzwerk »Europa in Bewegung«. Sie verweist auf eine Handreichung der Bundesagentur für Arbeit »zur Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger«. Darin werde Jobcentern geraten, insbesondere bei Menschen aus Rumänien und Bulgarien ganz genau hinzuschauen. Vorannahmen über herkunftsbezogene Gruppenmerkmale beeinflussen die Entscheidung über Leistungen, kritisiert Riedner. Diese rassistische Praxis werde nun von dem Scholz-Gesetz legalisiert.
Riedner verweist auf eine weitere Folge der Ausgrenzung. »Sie fördert nicht nur Verarmung, sondern auch prekäre Arbeitsverhältnisse.« Denn wenn bei Verlust des Arbeitsplatzes der Status und mithin die Existenz einer Familie bedroht ist, dann nehmen diese Beschäftigten selbst miserabelste Arbeitsbedingungen in Kauf. So trägt der Staat selbst zu Arbeitsbedingungen bei, die er eigentlich bekämpfen will, etwa durch Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit.
Die Rolle der Zollbehörden ist ohnehin ambivalent. Denn vermehrte Kontrollen, wie sie auch von Gewerkschaften und linken Politikern gefordert werden, um Nichtzahlung von Löhnen und Sozialleistungen aufzudecken, klingen in den Ohren von Migranten eher wie eine Drohung. »Mir ist kein Fall bekannt, wo Betroffenen geholfen wurde, ihre Rechte als Arbeitnehmer durchzusetzen«, erklärt Georgi Ivanov vom Verein »Amaro Foro«. Meistens würden sie selbst bestraft, zum Beispiel, indem ihnen das Aufenthaltsrecht entzogen wird.
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