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Berlioz kommt uns ins Haus
Gegen den Dünkel: Beim Musikfest in Berlin wird Hector Berlioz aufgeführt - zum Glück!
An Hector Berlioz scheiden sich die deutschen Geister. Ich kenne Klassik-affine Familien, die selbstbewusst postulieren: Wir hören Berlioz nicht! Also gewissermaßen: Berlioz kommt uns nicht ins Haus! Und der künstlerische Leiter des Musikfests Berlin, Winrich Hopp, muss sich vom Kritiker des Berliner »Tagesspiegel« fragen lassen, warum denn Berlioz im Mittelpunkt des Musikfests 2019 stehe, der sei zwar als Denker interessant, als Komponist aber »rein handwerklich nicht besonders gut gewesen«.
In welcher Gesellschaft komponierte Berlioz (1803-1869)? In Georg Kneplers unverzichtbarer »Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts« erfahren wir, dass der Thermidor, jener Sommermonat des Jahres 1794, in dem die Jakobiner gestürzt wurden und zumindest der radikale Teil der Französischen Revolution endete, einen »Wendepunkt in der Musikgeschichte bildet, wie es deren wenige gibt«. Die Großbourgeoisie im Bündnis mit Teilen des Feudaladels übernahm die Macht und organisierte nicht zuletzt auch das Musikleben völlig neu. »Mit dem Thermidor beginnt auch die Geschichte des kapitalistischen Musiklebens«, schreibt Knepler. Es wurden musikalische Strukturen begründet, die bis heute »unser« Musikleben bestimmen: Das Musiktheater mit seinen finanziellen und organisatorischen Begebenheiten, Konzertgesellschaften mit all ihren Strukturen, von Abonnementssystemen bis zu Konzerthäusern, Musikverlage, Fabriken des Instrumentenbaus samt dessen Handel und Tanzsäle, Konzertagenturen, aber auch Musik- und Theaterzeitschriften mitsamt den Rubriken in Tages- und Wochenzeitungen, die wir heute als »Feuilleton« kennen. Knepler: »Unter den Händen kapitalistischer Musikunternehmer wurde das Musikleben im Laufe weniger Jahre den Gesetzen des Kapitalismus angepasst.« Und: »Konnten die Musiker während der Revolution davon träumen, für alle Menschen Musik zu machen, so musste der Traum jetzt zerstieben.«
Es begann die bis heute andauernde Zeit, in der sich die meisten Musiker »zu Organen des Marktes machen« (Adorno) und nur noch zu träumen wagen, was sie dürfen. Als Berlioz in das Musikleben trat, war es bereits »in allen Zügen kapitalistisch« - Berlioz war einer der ersten Künstler, der weder das Rollenmodell feudalistischer Zeiten kannte, als Musiker entweder an Hofe oder als Kirchenmusiker wirkten, noch hatte er die Aufbruchsträume der Französischen Revolution miterlebt. Er lebte in einer Zeit, da der Musikhunger der breiten Massen des Kleinbürgertums und der Arbeiter »auf moderne, industrielle, kapitalistische Weise gestillt« wurde, »nämlich billig, massenhaft und mit großem Profit« (Knepler).
Keine reine Programmmusik
1830 schrieb Berlioz seine »Symphonie fantastique op. 14«. Sie enthält ein explizites Programm, die Sätze lauten »Träumereien - Leidenschaften«, »Szene auf dem Lande«, »Ein Ball«, »Der Gang zum Richtplatz« und »Hexensabbat« und handeln von einem »jungen Musiker von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Fantasie«, der sich »in einem Anfalle verliebter Verzweiflung mit Opium vergiftet«. Er hat die »seltsamsten Visionen«, und »seine Empfindungen, seine Gefühle und Erinnerungen setzen sich in seinem kranken Hirn in musikalische Gedanken und Bilder um« (Berlioz). Doch Berlioz ist nicht Mussorgsky, seine Bilder sind nicht wörtlich zu verstehen und deshalb im Grunde keine reine Programmmusik. Vielmehr reflektiert Berlioz in dieser Komposition die Rolle eines Einsamen, der sich vergebens in die Liebe zu retten sucht, es geht um die Frage der Fremdheit und der Isolierung: »Ich fühle mich versucht zu schreien, um Hilfe zu rufen ... O grausame Krankheit (moralisch, nervlich, eingebildet, alles, was man will), die ich die Krankheit der Isoliertheit nenne und die mich noch eines Tages töten wird ...«, schreibt Berlioz in seinen Memoiren. Isoliertheit ist hier ein unbedingt gesellschaftlicher Topos: »Der Held der ›Phantastischen Symphonie‹ ist der Künstler der bürgerlichen Gesellschaft, der, wo immer er sich befindet, mit seinen Träumen von Liebe allein ist«, hält Knepler fest. Berlioz unterstützte die Revolution von 1830 in Frankreich, sowohl mit »der Pistole in der Hand«, als auch durch seine Version der Marseillaise für großes Orchester und doppelten Chor. Anstelle der Bezeichnung »Tenöre, Bässe« schrieb er in die Partitur: »Alles, was eine Stimme, ein Herz und Blut in den Adern hat.«
Schwerpunkt der faszinierenden Klavier-Matinee mit Alexander Melnikov beim Musikfest war die von Franz Liszt eingerichtete Klavierbearbeitung der »Symphony fantastique« von 1833. Wir saßen im Kammermusiksaal und hörten diese Komposition so, wie sie in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Entstehung zu hören war - in Liszts Bearbeitung und auf einem historischen Flügel »Grand Modèle« von Sébastien Erard.
Bis zur Edition der Orchesterpartitur 1845 war Liszts »Klavier-Partitur« die einzige verfügbare Ausgabe des Werks, der Versuch einer Orchesteraufführung war spektakulär gescheitert. Doch Liszts »Klavier-Partitur« zu hören, ist alles andere als ein Nachteil. Natürlich ist die Umsetzung ein veritabler Kraftakt für den Pianisten, und Melnikov entledigt sich dieser Aufgabe mit Bravour. Aber durch den transparenten Sound des Klaviers, zumal wenn es sich um einen historischen Flügel mit seinem wärmeren und weniger auf Hochleistung getrimmten Klang handelt, werden die einzelnen Stimmen klarer, und es fehlen das orchestrale Pathos und die süffige Üppigkeit. Dafür gerät speziell das Adagio »auf dem Lande« innig und voller Stille und Frieden - die Welt, wie sie sein könnte, wenn sie nicht diejenige wäre, in der Berlioz und wir zu leben gezwungen sind. Und den »Gang zum Richtplatz« mit seiner berühmten Marschmelodie modelliert Melnikov zu einer grausigen Vision, nicht nur der Held selbst, sondern wir alle mit ihm werden zur Hinrichtung geführt - atemberaubend!
Eine Künstlerkarriere in schwierigen Zeiten
Im Paris des Jahres 1830 kehrte bald nach den Tagen der Julirevolution wieder Ruhe ein, »als der Traum zu Ende geträumt und die gesellschaftliche Maschinerie wieder im Lot war«, wie Berlioz die Niederlage beschrieb. Auch »Benvenuto Cellini«, Berlioz’ wenige Jahre später entstandene Oper, behandelt eine Künstlerkarriere in schwierigen Zeiten, auch sie ist eine Art Selbstporträt, wie Sir John Eliot Gardiner im wie immer beim Musikfest hervorragenden in᠆struktiven Programmheft formuliert: »Cellini war eine faszinierende Figur für Berlioz, weil er als Künstler genauso einsam und so eigenartig, geradezu isoliert war.«
Gardiner spielte auf dem Musikfest den »Cellini« mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi Choir. Der Künstler, Cellini wie Berlioz, kämpft gegen Autoritäten, um seine Kunst durchzusetzen. Und Cellini, das »Banditen-Genie« (Berlioz), gewinnt diesen Kampf, wenn auch nur knapp in einer brillanten viertelstündigen Schlussszene, in der auch alles hätte schiefgehen können. Wer allen Ernstes behauptet, dass Berlioz »handwerklich nicht besonders gut« gewesen sei, der beweist höchstens, dass sein musikalischer Sachverstand gering und indirekt proportional zu seinem Dünkel ist.
Großartig komponiert und gesungen (der Monteverdi Choir mit ungeheurer Intensität) die vielen Chorszenen, etwa die Hymne der durstigen Arbeiter auf die Kunst der Ziseleure oder die lebendige Karneval᠆szene. Im letzten Bild hat Berlioz sogar eine Streikszene komponiert, die Gießereiarbeiter weigern sich, ihre Arbeit fortzusetzen, solange sie nicht bezahlt werden - ein Sujet, das man in keiner anderen Oper des 19. Jahrhunderts findet. Berlioz war, wie viele andere Musiker im Frankreich der 1830er und 40er Jahre, Anhänger eines utopischen Sozialismus. In einem Brief an seinen Vater schreibt er 1831: »In allem, was die politische Neuorganisation der Gesellschaft betrifft, bin ich jetzt der festen Überzeugung, dass der Plan von St. Simon der einzig wahre und vollständige ist« - es geht ihm um den »Aufstieg der zahlreichsten und ärmsten Volksschichten« und um die »Abschaffung sämtlicher Privilegien«. Hier dürfte ein Grund liegen, warum das bürgerliche deutsche Musikleben Berlioz bis heute so vehement ablehnt.
Ein Visionär, ohne den das moderne Orchester nicht denkbar ist
Ein anderer Grund betrifft freilich die Musik, denn die »besondere Mischung von französischer Rhetorik und Musik«, die Berlioz laut Gardiner so »fabelhaft macht, viel besser als alle seine Zeitgenossen«, hat es seit jeher schwer auf der anderen Seite des Rheins. Berlioz versteht das Orchester als eine Maschine zur Herstellung von Klängen. Er war ein Visionär, und das moderne Orchester ist ohne ihn nicht denkbar.
In dieser fabelhaften Aufführung durch Gardiner und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, den Monteverdi Choir und ein bestechendes Sänger*innen-Ensemble (herausragend Michael Spyres in der Titelrolle!) erleben wir nicht zuletzt den besonderen Klang der historischen Instrumente. Was bei Barockmusik längst selbstverständlich ist, nämlich die sogenannte historisch informierte Aufführungspraxis, ist die romantische Musik betreffend hierzulande immer noch Neuland - anders als in Frankreich. Ein Vorteil der historischen Instrumente ist, dass sie beim Spielen in Sachen Kraft und Volumen bis an die Grenzen gehen können, ohne zu forcieren. Gerade das Fortissimo klingt bei diesem Orchester unter der souveränen Führung Gardiners eben immer noch warm und differenziert und gleichzeitig farbiger und gesanglicher als bei einem modernen Orchester.
Beschämend, dass das seit mehr als dreißig Jahren existierende Orchestre Révolutionnaire et Romantique nun das erste Mal überhaupt in Berlin zu hören war. Umso mehr ist dem Musikfest zu danken, dass es mit Berlioz’ »Benvenuto Cellini« in dieser herausragenden Interpretation nicht nur ein schillerndes Ausrufezeichen für sein diesjähriges Programm setzte, sondern hoffentlich auch eine wirkliche Berlioz-Renaissance einleitet.
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