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Gebären für das Wachstum

Überbevölkerung, Fachkräftemangel - von den Nachwuchssorgen der Wirtschaft

Aufgabe der Wirtschaft ist, so heißt es, Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse herzustellen. Der Zwang zum ständigen Wirtschaftswachstum wird daher begründet mit der wachsenden Anzahl der Menschen und ihrer Bedürfnisse. Ganz so harmonisch aber scheint das reale Verhältnis zwischen Mensch und Produktion heutzutage nicht zu sein.

Jahrzehntelang hieß es, es kämen weltweit zu viele Kinder auf die Welt, es gebe zu viele Menschen gemessen an der Wirtschaftsleistung. Heute wiederum gilt die geringe Geburtenzahl als das große Problem für die Ökonomie. Beide Beschwerden zeigen, dass die Versorgung der Menschen offensichtlich nicht das Ziel der herrschenden Wirtschaftsweise ist.

Die Kritik am Vermehrungsverhalten der Menschen hat Tradition. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts stellte der englische Pastor Thomas Robert Malthus die Theorie auf, die Armen seien selbst schuld an ihrer Armut, da sie sich schneller vermehrten als die Güterproduktion wachsen könne. Als Ausweg predigte er den Elenden Enthaltsamkeit. Zwar wiesen Karl Marx und andere nach, dass Malthus’ Berechnung falsch war. Dennoch hält sich bis heute die Idee, Armut sei eine Folge von »Überbevölkerung«.

Zum internationalen Konsens wurde diese Idee bei der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo. In den vorangegangenen Konferenzen hatten sich die armen Länder noch gegen die Haltung gewehrt, sie trügen die Schuld am Elend ihrer Einwohner, die schlicht zu viele seien. Stattdessen forderten sie wirtschaftliche Entwicklung. 1994 aber gaben sie nach, sie akzeptierten »Überbevölkerung« als zentrales Problem und machten sich daran, die Geburt überschüssiger Menschen zu verhindern: Verhütung wurde zum zentralen Thema und die Stärkung der Rechte der Frauen. Denn »jedes Jahr, das ein Mädchen länger zur Schule geht, bedeutet weniger Kinder«, schrieb damals die »Süddeutsche Zeitung«.

Die Diagnose »zu viele Geburten« krankte immer daran, dass einerseits die Zahl der Menschen als das zentrale Problem genannt wurde. Andererseits aber stand fest: Prinzipiell könnte die Erde alle Menschen nähren, bekleiden und behausen. Das Problem war also kein natürliches, sondern ein gesellschaftliches, eines der Ökonomie: »Nicht so sehr ein Mangel an Lebensmitteln als vielmehr einer an Kaufkraft wird als Grund für Unterernährung angesehen«, konstatierte der Weltbevölkerungsbericht 1994. Die Armen sind also nicht arm, weil sie zu viele sind, sondern weil ihnen Geld fehlt - Unternehmen bedienen nur Bedürfnisse, die zahlungsfähig sind. Geld fehlt den Armen, weil sie kein Einkommen haben. Und sie haben kein Einkommen, weil die Unternehmen sie nicht für ihr Wachstum brauchen. Das macht die Bevölkerung zur Überbevölkerung.

Schon die Diagnose »zu viele Menschen« ist also schwer zu verstehen. Umso schwerer zu verstehen ist die moderne Warnung vor »zu wenig Menschen«. Rund um den Globus ist die Geburtenrate wie 1994 gewünscht zurückgegangen. Nun drohen gerade im reichen Norden »Arbeitskräftemangel« und »Überalterung«. In der Folge wird sich in Deutschland das Wirtschaftswachstum bis 2035 auf 0,6 Prozent halbieren, errechnet das Ifo-Institut. Als Gegenmittel schlägt das arbeitgebernahe Institut IW unter anderem »Investitionen in frühkindliche Bildung« vor, die zu höherer Produktivität führten und so den »Vermögensbestand einer Volkswirtschaft« erhöhten: Kinder sind Ressourcen.

Ökonomen und Politiker beklagen sich also bei der Bevölkerung, dass sie zu wenig gebiert und dies dem Wirtschaftswachstum schadet. Nun könnte man einwenden: Ginge es um die Versorgung der Menschen, so könnte bei schrumpfender Bevölkerung die Wirtschaftsleistung ja problemlos sinken. Doch angesichts der Tatsache, dass das Bruttoinlandsprodukt steigen muss, wird die abnehmende Zahl von Beschäftigten zum Problem - zu wenig sind sie, nicht um sich mit Gütern zu versorgen, sondern um den Wachstumszwang zu bedienen.

Auch das Problem der »Überalterung« - quasi einer »Rentner-Überbevölkerung« - ist wohl kein biologisches. Kein Ökonom hat ernsthaft ausgerechnet, ob die deutschen Unternehmen wirklich nicht in der Lage wären, künftig mit weniger Arbeitskräften genug Brote, Computer und Hosen für die Bevölkerung zu produzieren. Stattdessen verweisen Demografie-Experten auf ein anderes Problem: Die Arbeitenden finanzieren über Rentenbeiträge die Alten, und wenn die Alten mehr und die Arbeitenden weniger werden, müssen beide verzichten.

Die naheliegende Lösung wäre: einfach den Lohn der Arbeitenden erhöhen. Das entspräche auch der marktwirtschaftlichen Logik, nach der knappe Güter teurer werden. Stark steigende Löhne aber sollen nicht sein. Denn sie gefährden die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Stattdessen sollen Alte und Junge sich eine künftig sinkende Lohnsumme aufteilen. So wird aus einem ökonomischen Problem ein »Generationenkonflikt«, aus dem der Anspruch an die Alten resultiert, sich zu bescheiden, und der Anspruch an die Frauen, mehr zu gebären.

Man sieht: Das Bruttoinlandsprodukt ist nicht ein »Kuchen«, der gemeinsam produziert und dann verzehrt wird. Stattdessen lebt der Großteil der Bevölkerung - inklusive ihrer »überzähligen« Teile - von einer Lohnsumme. Gezahlt wird sie ihnen, um das Wachstum der Wirtschaft voranzubringen. Dafür muss sie möglichst niedrig sein, damit die Unternehmen wettbewerbsfähig sind und das Bruttoinlandsprodukt dadurch steigt. Für diesen Zweck müssen immer ausreichend gut ausgebildete Menschen vorhanden sein. Sind es zu viele, ist das für die Wirtschaft nicht unbedingt ein Problem - solange die Überbevölkerung ruhig bleibt.

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