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Nach dem Deckel die Enteignung
Die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« holt neuen Schwung.
An den Fenstern kondensiert die Feuchtigkeit. Nur verschwommen geben sie den Blick frei auf den Hochbahnhof Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Über 200 Menschen drängen sich im Szeneladen Monarch. Das Interesse ist so groß, dass weitere 100 Personen abgewiesen werden müssen. Dabei geht es um kein Konzert oder die Lesung eines angesagten Autoren. Stattdessen sitzt auf der kleinen Bühne an der Spitze des Raums der Stadtsoziologe Andrej Holm. Er soll über Friedrich Engels’ Aufsätze »Zur Wohnungsfrage« referieren. Neben ihm hat Jenny Stupka vom Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co enteignen« Platz genommen. Der Veranstalter, der Berliner Bildungsverein Helle Panke der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist vollkommen überrascht von dem gewaltigen Zuspruch an diesem Freitag Anfang Januar.
Die fast 150 Jahre alten Ausführungen erscheinen, abgesehen von der Sprache, erstaunlich aktuell. »Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden«, schrieb Marx’ Weggefährte bereits 1872. Im Berlin der Gegenwart sind die Mietsteigerungen so »kolossal« wie nie: In Berlin haben sich in den letzten zehn Jahren die Angebotsmieten mehr als verdoppelt. 11,40 Euro wurden 2019 im Mittel nettokalt pro Quadratmeter verlangt, meldet das Portal Immowelt am Donnerstag. 2009 waren es noch 5,60 Euro.
Die rot-rot-grüne Koalition ist in den letzten Zügen des Gesetzgebungsverfahrens für den Mietendeckel, der die Mieten in der Hauptstadt für fünf Jahre einfrieren und teilweise sogar senken soll. Am Donnerstag hat das Gesetz in erster Lesung das Abgeordnetenhaus passiert. »Das Gesetz hat schon eine sehr beeindruckende Wirkung gezeigt«, erklärte die LINKE-Wohnungspolitikerin Gaby Gottwald jüngst im Stadtentwicklungsausschuss. Sie führt die Forderung des CDU-Politikers Stefan Evers nach einer zeitlichen Begrenzung der Modernisierungsumlage auf die Berliner Initiative zurück, genauso wie Stimmen aus der CSU, die den »Wucherparagrafen« so ändern wollen, dass er Wirkung entfalten kann. Die Wirtschaft malt den Untergang an die Wand.
Friedrich Engels hätte sich nicht mit solchem Kleinkram abgegeben, stellt Andrej Holm klar. »Es geht um den Kapitalismus«, hätte er gesagt. Und doch hatte der Theoretiker für die Wohnungsfrage eine spezielle Antwort: »Expropriation«, Enteignung also. »Ich fand es sehr spannend, mich mit Engels als sehr kritischem und polemischem Ratgeber für unsere Initiative auseinanderzusetzen«, sagt Jenny Stupka von »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Die Initiative möchte den Bestand renditeorientierter Vermieter, der pro Unternehmen 3000 Wohnungen übersteigt, gegen Entschädigung sozialisieren. Viele Berliner teilen dieses Anliegen. Fast 80 000 Unterstützerunterschriften für das Volksbegehren übergaben die Aktivisten bereits im Juni 2019 an den für die Prüfung zuständigen Innensenator Andreas Geisel (SPD). 20 000 gültige Unterschriften hätten ausgereicht, doch die Aktivist*innen wollten ein Zeichen setzen.
Die Innenverwaltung hat die rechtliche Prüfung jedoch auch mehr als ein halbes Jahr später immer noch nicht abgeschlossen. Er könne keinen neuen Stand vermelden, erklärt ein Sprecher der Behörde auf nd-Anfrage. Eine gesetzliche Frist dafür gibt es nicht. »Es wird gemunkelt, dass in den nächsten Wochen die Prüfung positiv beschieden wird«, sagt Jenny Stupka. Diese Hoffnung drückte Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (LINKE) bereits im Oktober aus. Ihre Partei hat sich bereits vor über einem Jahr hinter das Volksbegehren gestellt. Etwas verhaltener folgten die Grünen im Mai. Geisels SPD votierte im Oktober auf ihrem Landesparteitag dagegen.
»Mieterinitiativen sind politikwissenschaftlich gesehen der erfolgreichste Akteur in den letzten fünf Jahren«, erklärt Holm. Der Druck der Bewegung erzwinge die Beschäftigung mit einem Thema, das Geld kostet und keine schnellen Erfolge verspricht. »Wenn von einzelnen politischen Parteien aus Angst vor dieser Bewegung gesagt wird, dann machen wir einen Mietendeckel, dann ist das schon bemerkenswert«, findet der Stadtsoziologe. Demzufolge war es die Angst vor Enteignung, die die SPD seinerzeit dazu trieb, aus dem im November 2018 in der »Juristen Zeitung« erschienenen Aufsatz von Peter Weber, der die Möglichkeit eines Mietendeckels aufzeigte, ein politisches Projekt zu machen. »Ihr wisst gar nicht, wie viele internationale E-Mails und Telefonate ich bekomme, laut denen wir es hier geschafft haben, den neoliberalen Kapitalismus zu bändigen«, erzählt Holm. »Lasst uns erst einmal die Enteignung machen, dann können wir weiterreden«, entgegne er dann.
»Der Plan der SPD, die Aufmerksamkeit auf andere Maßnahmen zu richten, ist teilweise aufgegangen«, sagt Stupka. Dazu gehöre der Mietendeckel, aber auch die ewige Prüfungsschleife, in der das Volksbegehren nun hängt. »Vor einem Jahr gab es eine knappe Mehrheit für die Enteignung. Seitdem ist die Zustimmung runtergegangen«, stellt sie bedauernd fest. Angesichts der vielen Gegenkampagnen aus der Immobilienwirtschaft nicht verwunderlich. »Wenn man individuell mit den Leuten spricht, begegnet einem allerdings keine Skepsis«, berichtet Jenny Stupka.
Die Hände in den Schoß gelegt haben die Aktivisten in der erzwungenen Wartezeit allerdings nicht. Diesen Samstag soll eine große Plakataktion starten. 8000 Exemplare sollen in der Stadt geklebt werden. In den letzten Monaten haben Aktive von »Deutsche Wohnen & Co enteignen« zusammen mit anderen Initiativen unter dem Titel »Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft« ein Thesenpapier erarbeitet. Darin werden die Vorstellungen für die künftige demokratische Bewirtschaftung der Wohnungsbestände und der Diskussionsstand zum Vergesellschaftungsgesetz dargelegt. Es soll Ende des Monats bei einer Diskussion vorgestellt werden. »Das Papier soll nicht das Ende, sondern der Auftakt einer Debatte sein«, sagt die Aktivistin. Für sie und ihre Mitstreiter ist klar: »Nach dem Deckel ist vor der Enteignung.«
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