Der Dünnbartbohrer

Über den Corona-Opportunismus des deutschen Journalisten Gabor Steingart

  • Christian Y. Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt eine Menge Corona-Irre, die bis heute die Gefährlichkeit des Covid-19-Virus leugnen. Die meisten von ihnen dürften Überzeugungstäter sein, also Leute, die den gefährlichen Unsinn, den sie verbreiten, auch selbst glauben. So furchtbar sie auch sind, so muss man doch mildernde Umstände für sie geltend machen. Bei den meisten hat die Altersmeise bereits ein Nest im Kopf gebaut.

Ein anderes Kaliber ist Gabor Steingart, ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber der Tageszeitung »Handelsblatt«. Seit 2018 verschickt er per E-Mail ein sogenanntes »Morning Briefing«, eine Art »Breitbart light« für Wirtschaftsliberale, das stilistisch den schmalen Grat zwischen Claas Relotius und Franz Josef Wagner auslotet. »Dünnbart« wäre kein schlechter Name. Für den Verfasser aber müsste man aufgrund seiner Corona-Verlautbarungen ebenfalls eine neue Bezeichnung finden. Am besten würde eine passen, die ich hier nicht hinschreibe, denn ich habe keine Lust, mich von Steingart verklagen zu lassen. Nennen wir ihn also einen Corona-Opportunisten, der eigentlich keine eigene Meinung zum Thema hat, sondern jeweils gerade die vertritt, von der er glaubt, dass er sie am besten verkaufen kann. Allerdings kann der Mann weder rechnen noch über die Mittagspause hinausdenken, so dass er den Stimmungen hinterherhechelt.

Am 4. März, als hierzulande die offizielle Zahl der Covid-19-Infizierten noch bei 240 lag, versuchte sich Steingart mit vehementem Vokabular gleich an die Spitze der Corona-Leugner zu setzen: »Menschliche Sensationsgier und mediale Übertreibungslust haben mit vereinten Kräften eine Psychose herbeigeführt, gegen die das Gegengift der Aufklärung derzeit keine Chancen hat.« Und weil er einst im Mathematikunterricht nicht aufgepasst hatte, setzte er hinterher: »Die apokalyptischen Corona-Prophezeiungen vieler Medien wollen partout nicht eintreffen. Wer sich auf das Feld der vergleichenden Forschung begibt, hat schon gewonnen, vor allem an Gelassenheit. Nahezu jede menschliche Tätigkeit provoziert mehr Todesfälle als das «killer virus» (›Daily Mail‹).«

Da dieses Rundschreiben bei den Corona-Leugnern offenbar gut ankam, steigerte sich Steingart in den nächsten Tagen weiter in seinen Verharmlosungswahn hinein. Am 9. März - inzwischen sind bereits 1112 Menschen in Deutschland offiziell infiziert, aber erst zwei gestorben - dekretierte er: »Die weltweite Corona-Angst ist die womöglich größte Massenhysterie der Moderne - ausgelöst von den ›Bakterienschwärmen neuer Medien‹, um das Wort von Botho Strauß zu benutzen.« Menschen, die vor der Pandemie warnten, malte er als Vollidioten: »Die Tatsache, dass mehr Menschen bei Unfällen in den eigenen vier Wänden von der Leiter purzeln oder durch eine Schlange zu Tode gebissen werden, kann in der Stunde des emotionalen Aufruhrs nicht überzeugen.«

Dass zu diesem Zeitpunkt weltweit schon Tausende an Covid-19 gestorben waren, konnte hingegen Steingart nicht beeindrucken. So lange nur irgendwelche Chinesen hinter dem Himalaya und nicht Deutsche wie die Fliegen sterben, glaubt der deutsche Meinungsmacher sowieso nicht, dass etwas gefährlich ist. So weit, so bekannt, auch von anderen unter Wahrnehmungsdefiziten leidenden Corona-Leugnern. Doch dann passiert nur zehn Tage später etwas, bei dem sich eigentlich jeder Steingart-Leser die Augen reiben müsste. Aus heiterem Himmel verwandelt sich nämlich der Corona-Saulus in Corona-Paulus.

Wir schreiben den 19. März 2020 - inzwischen sind 11 000 Menschen in Deutschland offiziell infiziert und 20 an der Seuche verstorben -, da formuliert derselbe Steingart, der sich eben noch über die größte Massenhysterie der Moderne echauffiert hat, sieben knallharte Punkte, in denen er die Bundesregierung scharf kritisiert, sich nicht wirklich auf die Pandemie vorbereitet zu haben. Um seinen Seitenwechsel zu kaschieren, tut er so, als paraphrasiere er nur andere, nämlich »Ärzte, Wissenschaftler und führende Virologen«, aber seine Überschrift ist eindeutig: »Die 7 Fehler der Corona-Politik«. Fehler Nummer 1: »Zu spät habe die Bundesregierung den Vorsprung, der durch das chinesische Beispiel geschaffen wurde, genutzt und die Lehren aus Wuhan gezogen. Nur eine frühe und radikale Isolation der gesamten Stadt führte dort zu einer Unterbrechung der Infektionsketten. Deutschland dagegen ließ die Flughäfen, die Seehäfen und alle übrigen Grenzstellen offen, sodass die Infektion aus China und später dann aus Italien und Österreich ungehindert importiert werden konnte.« Fehler Nr. 2… ach, es reicht.

Man fasst es nicht. Keinen Pieps der Distanzierung hatte man zuvor von Steingart gehört: Keine Entschuldigung für seine Verharmlosungen der Pandemie, keine Erklärung, in der er seine unverfrorenen Lügen und Beleidigungen zurücknimmt. Nichts. Keinen einzigen Satz. Und jetzt gerierte sich der Mann, der eben noch die Meute der Corona-Leugner anführen wollte, plötzlich als Vorreiter derjenigen, die der Bundesregierung schwere Fehler vorwerfen? Wie geht so etwas? Wie hält es so einer mit sich aus? Müsste sich Steingart nicht jeden Morgen selber eine knallen, wenn er sich im Spiegel sieht?

Wie auch immer: Seit dieser Wende glaubt jedenfalls Gabor Steingart offenbar in vorderster Front im Kampf gegen das Corona-Virus zu stehen. Damit aber andererseits auch die Bundesregierung nicht glaubt, dass er wirklich etwas gegen sie hat - wer das tut, kann bei deutschen Medien und dem devoten Publikum hierzulande auf Dauer nichts werden - , sind auch die sieben scharfen Kritikpunkte schon wieder vergessen, als Steingart am 2. April Seuchenminister Jens Spahn zu Gast hat. Statt diesen nun mit seiner Behauptung von Ende Januar zu konfrontieren, Deutschland sei »gut vorbereitet«, schleimt sich der Dünnbartbohrer bei ihm ein: »Am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages treffe ich Spahn in seinem Ministerium für unser Podcast-Interview (...) Der 39-Jährige wirkt müde und konzentriert zugleich. Er ist besorgt und klar, kämpferisch und demütig. Das einst Nassforsche des Aufsteigers ist einer neuen Nachdenklichkeit gewichen. Er spürt die Wucht einer globalen Pandemie, die nicht zur Begrenztheit seiner politischen Mittel passen will. Als ihm das Wort ›demütig‹ zur Beschreibung seiner Seelenlage angeboten wird, weist er es nicht von sich, sondern greift zu.«

In China machen sie Propaganda? Wirklich? So etwas habe ich in chinesischen Medien jedenfalls noch nicht gelesen. In diesem Stil schreibt man allenfalls in Nordkorea über die Führung. Gabor Steingart, als Journalist eine Not- und als Mensch eine Fehlbesetzung. Aber merkt das irgendeiner? Regt das einen auf? Ach, iwo, wir sind ja in Deutschland, wo jeder Mist verbreitet werden kann, ohne dass das Folgen hätte, außer dass in dem Moment, in dem ich das hier schreibe, schon 1300 Leute im Zuge dieser lächerlichen »Psychose« (Steingart) gestorben sind. Am Ende aber wird dafür keiner verantwortlich sein: Weder Jens Spahn noch sonst jemand aus der Regierung. Und Gabor Steingart schon gar nicht.

Der Schriftsteller Christian Y. Schmidt lebt in China und Deutschland. Er erlebte in Peking den Ausbruch der Pandemie mit und schrieb von dort aus ein Corona-Tagebuch, das in Auszügen von diversen deutschen Zeitungen übernommen wurde. Nach seiner Ankunft in Berlin Mitte Februar war er einer der ersten, der warnte, dass die Pandemie auch in Deutschland größere Ausmaße annehmen werde. Soeben erschien von ihm »Der kleine Herr Tod« (Rowohlt Berlin).

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