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Das menschliche Element

Muss Theater alles mitmachen? Das Berliner Theatertreffen fand dieses Jahr virtuell statt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 6 Min.

Jedes Jahr Anfang Mai findet das Berliner Theatertreffen statt. Das heißt nicht nur, dass eine Jury zehn bemerkenswerte Inszenierungen aus dem vergangenen Jahr eingeladen hat, die dann in Berlin aufgeführt werden. Es heißt zudem, dass man am Haus der Berliner Festspiele in Westberlin bei kühlen Getränken unter den blühenden Kastanien sitzt, bis man irgendwann aus dem Garten an die Bar und dann noch auf einen Absacker in den nahegelegenen Rum Trader umzieht. Hier treffen sich die Spitzen des Betriebs, die angesagten Regisseure, die berühmten Schauspieler und die Intendanten mit den großen Budgets. Man tauscht Nettigkeiten und Nummern aus, plant neuartige Projekte und bahnbrechende Abende, die dann bestenfalls wieder genau hier landen sollen: beim Theatertreffen. Möchte man einmal beobachten, wie sich soziales Kapital generiert, so ist man ebenso am rechten Ort wie für einen Vorgeschmack auf die Modetrends des kommenden Sommers. Klatsch und Tratsch gibt es an jeder Ecke. Wer geht wohin, wer fördert wen, wer hat was mit wem. Selbst ungewollt kommt man in den Genuss solcher Neuigkeiten. Es herrscht eine atmosphärische Mischung aus Messe und Klassentreffen. Doch dieses Jahr ist alles anders. Das Theatertreffen wurde abgesagt, aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Sechs der zehn eingeladenen Inszenierungen wurden als Stream präsentiert - verbunden mit einem improvisierten Rahmenprogramm. Virtuelles Theatertreffen nannte sich das, eine Special Edition vom 1. bis 9. Mai.

Die Frage, die alle Theatermacher umtreibt, lautet: Wie hält man’s mit der Digitalisierung und dem Streaming? So war eine Diskussionsrunde per Videokonferenz unter dem reißerischen Titel »Stoppt das Streaming!« als Grundsatzdebatte angekündigt. Aber gab es überhaupt grundsätzlichen Dissens? Die Regisseure Christopher Rüping und Anne Lenk jedenfalls bemühten sich sehr, das Theater als eine über Bildschirme nur schwerlich übertragbare Kunstform zu retten. Rüping war im vergangenen Jahr mit einer zehnstündigen Antikeninszenierung zum Theatertreffen eingeladen, deren Reiz im Stream vermutlich vollends untergegangen wäre. Und Lenks dieses Jahr ausgewählte großartige Inszenierung von Molières »Der Menschenfeind« wurde nicht als Stream gezeigt. Bedauerlicherweise? Schwer zu sagen. Denn der Abend wird hoffentlich noch länger im Repertoire des Deutschen Theaters Berlin sein. Ende Mai öffnen neben Kinos und Opernhäusern auch die Theater wieder, gab als erstes unter den Bundesländern Nordrhein-Westfalen bekannt. Andernorts wird es erst im Herbst wieder die ersten Vorstellungen vor Publikum geben. Für die Zwischenzeit haben zahlreiche Theater ihre Archive durchkämmt und Mitschnitte online gestellt. Das reicht von Jahrzehnte zurückliegenden Momenten der Theatergeschichte bis zu aktuellen Arbeiten. Seltener finden sich Liveangebote. Häufiger gibt es kleine Netzhäppchen für Zwischendurch, darunter Szenenstudien, Kurzlesungen oder Videobotschaften.

Was aber will man mit dem Streaming? Für Künstler wie Rüping und Lenk ist es ein Ersatz für die Zeit untersagter Aufführungen - und ein schlechter noch dazu. Doch das sehen bei Weitem nicht alle so. Die gegenwärtigen Schließungen kommen denen entgegen, die schon seit geraumer Zeit darauf drängen, das Theater ins Digitale zu befördern. So mahnte der Diskutant Christian Römer beflissen-lobbyistisch, die Krise als digitale Chance zu begreifen. Und auch Roman Senkl beschwor die schöne neue Welt der digitalen Möglichkeiten. Eine 360°-Kamera erlaube beispielsweise gänzlich neue Narrative. Nun könnte man einwenden, dass das für den Film durchaus sein könne. Aber fürs Theater? Zwar arbeitet Theater mit Bildern. Insoweit hatte auch die Verbreitung der Ölmalerei eine Auswirkung auf einen Aspekt des Theaters, nämlich die Kulissenmalerei. Und insoweit mögen auch neuartige Kameras einen Beitrag zur technischen Verfeinerung einer Inszenierung leisten. Doch im Kern ist das Theater seit Jahrhunderten eine simple Sache: Ein Mensch spielt etwas vor einem anderen. Das lässt sich unter technischen Aspekten immer weiter verbessern. »Um Theater zu machen, braucht man aber nur eines: das menschliche Element. Das heißt nicht, der Rest wäre unwichtig, aber darauf liegt nicht das Hauptaugenmerk«, schrieb der große Theaterregisseur Peter Brook. Die Erfindung des Dialogs, die Ausdifferenzierung der Gattungen, die geschickte Verknüpfung mehrerer Fabeln sind für die »Narrationen« des Theaters weitaus bedeutender als die Technik. Und selbst die Erfindung der Drehbühne folgte noch der erzählerischen Anforderung, Szenenwechsel in schneller Abfolge auf die Bühne bringen zu können - nicht umgekehrt. Doch was man eigentlich erzählen will und wie, darüber wird kaum gesprochen.

Was will man also mit der Digitalisierung? Ist das Theater nur eine Spielart des Films, quasi mit Live-Elementen? Führt der Weg zu tatsächlichen Neuerungen dieser Kunstform über Kameras und Bildschirme, über Smartphones und Gamification? Dass sich die Debatte so sehr auf technische Details fokussiert, kann man selbst als Ausdruck einer Sinnkrise des Theaters fassen, in der man sich verzweifelt an noch Innovationen versprechende Zauberwörter wie Digitalisierung klammert. Warum gebe es keine Dramaturgen für Tiktok, eine vor allem unter 12- bis 15-Jährigen beliebten Videoplattform, fragte die ebenfalls an der Diskussion beteiligte Joana Tischkau. Will man wirklich ein Theater, das sich in solchen Einzelheiten verliert, das jeder Mode und Neuerung hinterherhetzt, aber kaum noch weiß, was die eigenen Mittel vermögen? Muss Theater alles mitmachen - oder hat es noch ein eigenes Anliegen? Die angekündigte Grundsatzdebatte krankte daran, dass sie mehr oder weniger bei der Frage stehenblieb, wie die Kunden bedient werden: digital oder analog. Doch bei dem Thema »Chancen und Gefahren von Theater im Netz« hätte man durchaus auch einen Blick auf größere Zusammenhänge werfen können. Weder digitale Ausbeutung noch Abhängigkeit von Monopolen wurden thematisiert, auch nicht die Auswirkungen auf die Arbeitsteilung im Theater. Und auch die in der »taz« aufgeworfene Frage, ob das Streaming vor allem der Verdinglichung und Kommodifizierung der Kunst dient, wurde ausgespart. So traf blinder Anfang-2000er-Netz-Optimismus auf defensive Skepsis. Zu diskutieren hätte es aber noch mehr gegeben.

Dann gab es noch Theater zu sehen - im Stream. Zwei Inszenierungen konnten neben dem erwähnten »Menschenfeind« in einer insgesamt ausgesprochen schwachen Auswahl überzeugen. Johan Simons’ »Hamlet« vom Schauspielhaus Bochum beeindruckte durch die reduzierte Darstellung des Dramas. Über der leeren Bühne rotiert ein überdimensioniertes Mobile. Die konsequente Strichfassung konzentriert sich auf Staatsgeschäfte und Konflikte der Figuren. Sandra Hüller gibt den Titelhelden als klugen, aber handlungsunfähigen Zauderer. Mit Gina Haller in der Doppelrolle von Ophelia und Horatio hat sie eine überragende Mit- und Gegenspielerin. Bernd Rademacher als Polonius ist in der bis in die Nebenrollen glänzend besetzten Inszenierung noch hervorzuheben. Vom Schauspiel Leipzig wurde Claudia Bauers »Süßer Vogel Jugend« eingeladen. Tennessee Williams zeigt in dem 1959 uraufgeführten Stück die Geschichte der abgehalfterten Filmdiva Alexandra del Lago und des gescheiterten Schauspieler Beau Chance Wayne in dessen Heimatstadt an der Küste Floridas - gespielt von Anita Vulesica und Florian Steffens, wobei auch bei dieser Inszenierung insbesondere die Ensembleleistung hervorzuheben ist. »Bestien sind wir beide«, sagt sie zu ihrem jungen Liebhaber, als sie ihn abserviert. Bestien sind aber auch die anderen, in einer durch Lügen und Gewalt geprägten Gesellschaft. »Süßer Vogel Jugend« zeigt ein zerrüttetes Gemeinwesen, das sich im Niedergang noch durch falsche Träume aufrechterhält. Und es wäre kaum verwunderlich, sollte Bauer nächstes Jahr wieder eingeladen werden. Mit der Inszenierung von »Meister und Margarita«, die Anfang März in Leipzig Premiere feierte, hat sie sich nochmals übertroffen.

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