- Berlin
- Corona in Berlin
Corona als Stigma
Infektionswelle in Neukölln wirft Fragen zum Handeln des Gesundheitsamts auf
»Neukölln ist kein Polizeistaat und nicht China«, entgegnet der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) am Dienstagmittag auf die Frage nach dem Umgang mit mutmaßlichen Covid19-Quarantänebrechern. Es müsse darum gehen, die Bedeutung von Quarantäne und Hygiene zu erklären. Hikel warnt davor, Menschen strukturell zu unterstellen, dass sie sich nicht an die Quarantänepflicht halten würden. Man werde nicht mit Einsatzhundertschaften vor dem betroffenen Wohnhaus erscheinen, feuert Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) noch ein wenig die Fantasie an.
Am Montag ist eine Corona-Infektionswelle in einem Wohnblock an der Ecke Treptower und Harzer Straße in Neukölln bekannt geworden. Für 369 Haushalte wurde am Samstag Quarantäne angeordnet, bis Montagabend wurden 57 Personen positiv getestet. Hikel. Liecke sowie Amtsarzt Nicolai Savaskan traten daher am Dienstag im Rathaus Neukölln vor der Presse.
Dass hier Fragen gestellt werden, in denen es vor allem um Kontrolle geht, hat auch damit zu tun, dass nicht nur die Boulevardmedien der Hauptstadt am Montag einen Aspekt in ihrer Berichterstattung besonders betont hatten: dass die betroffenen Häuser in Neukölln, Spandau und Reinickendorf »einen hohen Anteil rumänischer Bewohner« hätten. »Eine schwierige Bevölkerungsgruppe«, zitiert die »Berliner Morgenpost« CDU-Stadtrat Liecke, der den »Schwerpunkt« in der »Roma-Community« ausmachte. Wie zur Bestätigung flogen am Montag rohe Eier auf Kamerateams, die das Haus und Bewohner*innen abfilmten.
Immer wieder wird auch die Mitgliedschaft einiger Bewohner*innen in der Pfingstgemeinde erwähnt. Dass ein Pfarrer der Gemeinde ebenfalls mit dem Coronavirus infiziert ist und derzeit stationär behandelt wird, hat die Mutmaßung bestärkt, dass hier ein Zusammenhang mit den Infektionen besteht. Das sei aber nicht bestätigt und für die Arbeit vor Ort auch unerheblich, so Hikel.
Die Bezirksvertreter konnten auch keine Auskunft darüber geben, wann das Gesundheitsamt Neukölln aktiv in die Kontaktverfolgung eingestiegen ist, um einen größeren Ausbruch zu verhindern.
Bereits am 5. Juni seien die ersten Fälle bekannt geworden, heißt es am Dienstag. Die Betroffenen lebten an sieben Standorten in verschiedenen Kiezen, erklärt dazu Falko Liecke. Getestet worden seien bisher 265 Personen. Unter den Infizierten seien auch etliche Kinder. Insgesamt seien diese in zwölf Klassen auf acht Schulen verteilt, für die jeweiligen Lerngruppen und Lehrer*innen sei ebenfalls Quarantäne angeordnet worden. Auch eine Kitagruppe sei betroffen. Man habe sich die Entscheidung, die Wohnstandorte zu schließen, statt der Schulen, nicht leicht gemacht, so Liecke. Eventuell sollen die Hinterhöfe genutzt werden dürfen.
Über drei positiv getestete Kinder in zwei Neuköllner Schulen sei man auch auf den einen Wohnzusammenhang gestoßen, der nun im Fokus steht, erklärt Martin Hikel. Wie die Adresse des Wohnblocks an die Öffentlichkeit gelangen konnte, ist dem Bürgermeister ein Rätsel.
Hikel beschreibt die Wohnverhältnisse vor Ort als sehr beengt. Pro Haushalt lebten bis zu zehn Menschen zusammen. Man sei durch die mehreren katholischen Bistümern gehörende Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft, die die Häuser vor knapp zehn Jahren übernommen hat, über 130 Mietverhältnisse informiert. Das Virus sei nun auch in Mietskasernen angekommen, erklärt der SPD-Politiker. Es treffe die Schwächsten der Gesellschaft.
Sozialarbeiter seien aber vor Ort, für den kurzfristigen Bedarf der Menschen in Quarantäne würden in Kooperation mit dem Technischen Hilfswerk Hilfspakete organisiert. Auch die im Zuge der Coronakrise entstandenen 19 Neuköllner Engagementzentren wurden am Montag nach Ehrenamtlichen abgefragt, »möglichst rumänisch sprechend«. Erst am Montag wurden Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamts zum ersten Mal von Übersetzer*innen begleitet. Warum solche Art der Sprachmittlung nicht früher bemüht wurde? Auf diese Frage antwortet Falko Liecke auf der Pressekonferenz nicht.
»Es ist immer leicht zu sagen, die Menschen sind so schwer erreichbar«, sagt ein Nachbar aus dem Umfeld des Wohnblocks, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Momentan seien die Menschen sehr aufgeregt und hätten Angst.
»Natürlich sind viele Leute misstrauisch gegenüber den Behörden«, erklärt Hamze Bytyci vom Landesvorstand der Berliner Linken. Die institutionelle Diskriminierung durch Einrichtungen wie das Jugendamt gehöre für viele Betroffene zum Alltag, erklärt der Vorsitzende des Vereins Roma Trial. Ihm hätten negativ getestete Personen aus den betroffenen Häusern berichtet, dass sie ebenfalls in Quarantäne geschickt worden seien. »Das ist eine Beschneidung ihrer Bürgerrechte«, empört sich Bytyci.
»Es ist anstrengend, zu sehen, dass die Politik der harten Hand wie sie auch Falko Liecke fährt, wieder auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird«, so Bytyci.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.