Aufbegehren als Alternative

Fleischbaron und Schuldenmeister: Christoph Ruf hofft auf ein Ende des »Systems Tönnies«

Mein erstes Schalke-Spiel sah ich Mitte der Neunziger, St. Pauli war zu Gast. Und laut Eintrittskarte habe ich damals drei Mark Eintritt bezahlt - also 1,50 Euro. Offenbar bedurfte es besonderer Maßnahmen, um gegen den damals vergleichsweise unattraktiven Gegner die Bude voll zu bekommen. 1997 im Mai habe ich für das Europapokalspiel gegen Inter Mailand sogar noch 1,50 Euro weniger bezahlt. Mit ein paar Kumpels sind wir damals spontan aus Köln nach Gelsenkirchen gefahren, in der Hoffnung, auf dem Schwarzmarkt noch Karten für das seit Wochen ausverkaufte Spiel zu bekommen. Es gab tatsächlich einen Schwarzmarkt, aber die geforderten Summen waren indiskutabel. Also kletterten wir über den Zaun, rannten an Security und Hunden vorbei und tauchten mitten in der Nordkurve, in dem riesigen Meer aus Jeans-Kutten, unter.

Die Aufstellung von damals musste ich 23 Jahre später nachschlagen - bis auf einen Namen: Yves Eigenrauch, dessen Vornamen (»Yyyves«) das ganze Stadion jedes Mal skandierte, wenn er an den Ball kam. Als nicht eben filigran veranlagter Dauerläufer, der sich schon zu einer Zeit gegen Rechts positionierte, als das im Fußball noch Mut kostete, sprach er viele Teile der Schalker Fanszene an: die Malocher, die Linken. Und die linken Malocher.

Eigenrauch war auch 23 Jahre später, am Sonnabend, am richtigen Ort, als Schalke in Freiburg 0:4 verlor und im 16. Spiel hintereinander keinen Sieg zustande brachte. Der ehemalige Fanliebling war zusammen mit mehr als 1000 Schalke-Fans am Vereinsgelände Berger Feld - wo er gegen das »System Tönnies« protestierte, das nach Meinung der Fans sowohl im Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück als auch auf Schalke schlimme Folgen hat. In der Fabrik Entbeiner, die unter menschenunwürdigen Bedingungen im Akkord Schweinehälften in weitere Einzelteile zerlegen müssen und von den paar Euro, die ihnen unter Umgehung des Tariflohnes gezahlt werden, noch mal mehrere hundert Euro für ihre Sechser- oder Achterzimmer abgezogen bekommen. Auf Schalke ein System aus sportlicher Ahnungslosigkeit und wirtschaftlicher Inkompetenz, das zu horrenden Schulden führte. Und dem seit Jahren größten Missverhältnis zwischen finanziellem Aufwand und sportlichem Ertrag in der gesamten Bundesliga.

Man kann nur hoffen, dass Firmenboss und Vereinschef Clemens Tönnies dem öffentlichen Druck nicht mehr lange standhalten kann. Der ein oder andere Politiker, der in den vergangenen Jahren noch sehr stolz darauf war, zu den Firmenfeiern eingeladen zu werden, ist jedenfalls schon mal vom Fleischbaron abgerückt. Und auch im Verein mehren sich die kritischen Stimmen.

Wobei ich nicht so recht weiß, ob das ausschließlich ein Grund zur Freude ist. Denn letztlich ist nichts, aber auch gar nichts, was über das »System Tönnies« in den vergangenen Wochen diskutiert wurde, neu. Viele Fans haben immer wieder wohlinformiert versucht, auf Missstände hinzuweisen - meist ohne Erfolg. Auch die Gewerkschaft NGG und die Initiative »Arbeitsunrecht« fanden zu wenig Gehör.

Zum »System Tönnies« gehörten auch Journalisten, die bis vor kurzem stolz darauf waren, mit »dem Clemens« per du zu sein. Und, wie um Himmels Willen, hat es eigentlich Finanzvorstand Peter Peters geschafft, viele, viele Jahre als Vizepräsident bei DFB und DFL zu fungieren? Ein Mann, der seit 27 Jahren als Tönnies’ Statthalter auf Schalke fungierte und jüngst die noch nicht ausbezahlte vierte Rate der Fernsehgelder noch vor Corona verpfändet hat. Als Empfehlungsschreiben für die Verbände sollte das eigentlich zu dünn sein. Da passt es ins Bild, dass der aus Rentnern und Geringverdienern bestehende Fahrdienst von Schalke 04 , der auf 450-Euro-Basis arbeitet, entlassen wurde. Man sourct eben lieber aus im System Tönnies.

Nun kann man als Fan nicht einfach den Verein wechseln, weil Funktionäre an der Macht sind, die die eigenen Werte mit Füßen treten. Als Alternative bleiben Resignation, innere Emigration und Zynismus. Weit besser ist das Aufbegehren, für das sich Katharina Strohmeyer und Stefan Barta entschieden haben, als sie die Samstags-Demo organisierten. Der eine ist seit 1991 Vereinsmitglied, die andere ist als 14-Jährige eingetreten. Zusammen mit allen Teilnehmern haben sie gezeigt, dass neben dem zur Karikatur verkommenen Konstrukt auch das alte Schalke noch lebt. Dass »Yyyves« auch noch 18 Jahre nach seinem letzten Spiel für Schalke weiß, wo sein Platz ist, versteht sich da von selbst.

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