»Man ist froh und stolz über jedes gerettete Leben«

Zoe Katharina über ihr Engagement auf dem Flüchtlingsrettungsschiff »Iuventa«

Was hat Sie, Zoe, bewogen, sich unmittelbar nach dem Abitur bei »Jugend rettet« zu melden? Statt, wie andere Ihrer Generation, ein Studium zu beginnen?

Weil ich es unerträglich fand, dass Menschen vor unseren Grenzen sterben, die auf der Flucht vor Krieg, Folter und Armut sind. Ich bin vermutlich durch mein Elternhaus sozial sensibilisiert. Die Bilder im Fernsehen und die Berichte in den Zeitungen über im Mittelmeer ertrinkende Menschen haben mich empört. Das Leid, die Not der Menschen, die sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, ihre Familien und Freunde zurückzulassen, erschüttern mich. Niemanden sollte dieses Elend unberührt lassen.

Zur Person

»Zoe« ist  Griechisch und bedeutet Leben. Aristoteles verband damit ein sinnerfülltes und glückliches Erdendasein, sein Lehrer Platon eher das Schicksal, das einem Menschen bestimmt ist.

Es war vielleicht eine Art Schicksal, das Zoe Katharina, Jg. 1996, an Bord des Rettungsbootes »Iuventa« führte – getrieben von einer inneren Berufung, Menschenleben zu retten. Nach dem Abitur, während einer Ausbildung zur Bootsbauerin, meldete sich die 20-Jährige bei »Jugend rettet«. Im August 2017 wurde die »Iuventa«, die mehr als 1400 Menschen rettete, im Hafen von Lampedusa von den italienischen Behörden beschlagnahmt und festgesetzt. Crewmitgliedern, darunter Zoe, will die italienische Justiz den Prozess wegen »Beihilfe zum Menschenhandel« machen (iuventa10.org).

Ihre Erlebnisse auf der »Iuventa« hat Zoe jetzt in einem Buch niedergeschrieben: »Zoe heißt Leben« (Patmos, 172 S., geb., 18 €).

Einerseits gibt es hierzulande Solidarität mit den Flüchtlingen, andererseits aber auch eiskalte Ignoranz.

Das ist inhuman. Das verstehe ich nicht. Jene, die den Flüchtlingen die kalte Schulter zeigen, sollten sich mal in deren Lage versetzen. Es ist ein purer Zufall, dass sie in einer Wohlstandsgesellschaft geboren und aufgewachsen sind und nicht irgendwo in Afrika oder Asien ohne Perspektive auf ein glückliches, erfülltes Leben, ohne die Chance, ihre Träume erfüllen zu können.

Diese Woche diskutierten die Innenminister der EU-Staaten erneut über Flucht und Migration - und erneut ohne ein konkretes Ergebnis. Es scheint fraglich, ob der »Asyl- und Migrationspakt«, den die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im August vorlegen will, wirklich zustande kommt. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Meldungen über das Treffen lasen?

Ich habe mit Verwunderung die Schlagzeilen gelesen, die über eine »ungerechte Flüchtlingsverteilung« klagen. Ich finde das Geschacher und Gezänk um Flüchtlingszahlen unerhört, unwürdig. Das macht mich wütend. Es geht um Menschen, nicht um irgendwelchen Ballast. Und ich finde, Deutschland sollte voranschreiten, ein Vorbild sein. Wir sind ein großes, reiches Land und zieren uns. Oder klopfen uns stolz auf die Schulter, wenn wir mal 50 unbegleitete, kranke Flüchtlingskinder aus einem griechischen Camp aufnehmen. Ich glaube auch, der Ausbruch der Pandemie kam einigen hier gerade recht, um die Aufnahme weiterer Migranten abzuwehren. Bundesinnenminister Horst Seehofer spricht von »flexibler Flüchtlingspolitik«. Was soll man darunter verstehen?

Die Sache ist doch eindeutig: Es gibt die UN-Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention, das Seenotrecht, von Gelehrten und Politiker aus aller Welt verfasst und verabschiedet, von vielen Staaten unterzeichnet. Soll das nicht mehr gelten?

Sie haben bereits am ersten Tag Ihres Einsatzes auf der »Iuventa« mitgeholfen, 500 Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten. Was überwog: Stolz oder Entsetzen über die Misere?

Die Zahl der von uns Geretteten haben wir erst nach dem Einsatz erfahren. Aber natürlich ist man froh und stolz über jedes gerettete Leben, andererseits auch traurig, dass Menschen sich in überfüllten Booten auf hohe See begeben müssen, weil es keine legalen Fluchtmöglichkeiten gibt.

Andererseits hat man sich in dem Moment, in dem man die Menschen zu sich an Bord holt, eigentlich gar nicht viele Gedanken machen können. Man hat einfach funktioniert. Überhaupt, all die Tage, die ich auf der »Iuventa« war. Es gab ständig viel zu tun. In den wenigen Momenten der Ruhe habe ich natürlich darüber nachgedacht, was diese Menschen, die wir aus dem Wasser zogen, hinter sich haben, wovor sie geflohen sind. Was hat sie bewogen, das Risiko auf sich zu nehmen, sich in kleinen, seeuntüchtigen Booten aufs unberechenbare, hohe Gewässer zu begeben? Auch Mütter mit kleinen Kindern. Und die meisten Flüchtlinge können noch nicht einmal schwimmen, sind bei einem Kentern ihrer kleinen Nussschalen sofort dem Tod durch Ertrinken ausgesetzt. Ich frage mich manchmal: Würde auch ich eine solche Gefahr auf mich nehmen, um schrecklichen Lebensumständen zu entkommen?

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie selbst eigentlich nicht seefest sind. Wieso haben Sie dann das Wagnis auf sich genommen?

Seit frühester Kindheit bin ich auf dem Wasser, aber eher auf Sportbooten in küstennahen Gewässern und nicht auf hoher See. Mein Vater hat uns am Wochenende stets zum Segeln mitgenommen. Anfangs fand ich das gar nicht so toll, weil ich wirklich Angst hatte. Die ist dann aber in Begeisterung umgeschlagen. Ich habe mit Regattasegeln angefangen, mein jüngerer Bruder jetzt auch.

Ich liebe Gewässer, weiß aber auch um die Gefahr, die sie für den Menschen bedeuten können. Vielleicht ist das ganz gut für eine solche Mission wie bei der »Iuventa«. Ein Schutz vor Überschätzung. Es ist wichtig, sich selber gut zu kennen, seine Kräfte, Stärken und Schwächen einzuschätzen. Man kann sich natürlich nicht ganz auf jede mögliche extreme Situation vorbereiten, aber sich immerhin um Voraussicht, Vorsicht bemühen.

Sie wurden von »Jugend rettet« sofort genommen, als Sie sich meldeten?

Ja, denn ich kann gut Motorboot fahren, und sie brauchten eine geschulte Bootsfahrerin.

Was meinten die Eltern dazu?

Eltern machen sich natürlich immer Sorgen um ihr Kind. Aber sie haben meine Entscheidung befürwortet. Und ich glaube, sie sind auch ein wenig stolz auf mich.

Wie lange währte Ihr Einsatz ?

Insgesamt waren es drei Wochen, einschließlich der Vorbereitung auf den Einsatz. Ansonsten eigentlich nur einige Tage. Aber die waren strapaziös genug. Wir alle waren danach völlig erschöpft, physisch wie psychisch. Wir waren am Ende, hätten nicht weitermachen können.

Ich kann mir vorstellen, dass es vor allem auch emotional sehr belastend war. Sie wurden auch mit Leichen konfrontiert?

Ja, das war schrecklich. Die Bilder kann man nicht verdrängen. Manche Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Die Alpträume sind mit der Zeit gewichen. Aber was für traumatische Erfahrungen haben die Menschen in den maroden Schlauchbooten vor der libyschen Küste gemacht? Mit hat vielleicht geholfen, dass meine Eltern mir früher von ihren Erfahrungen in ihrem Beruf erzählt haben. Mein Vater ist Psychiater, meine Mutter Sozialarbeiterin. Beide haben täglich mit Menschen zu tun, die in Krisen- und Konfliktsituationen geraten sind. Natürlich ist das nicht vergleichbar. Schlimm war nicht nur der Anblick toter, sondern auch geschundener Körper, die Spuren von Folter zeigten.

Ein Vorwurf gegen die Mannschaft der »Iuventa« lautete, dass unter den Flüchtlingen sich nicht nur Opfer, sondern ebenso einige Täter befunden hätten.

Das weiß man nicht, wenn man Menschen aus Seenot retten. Woher auch? Zudem: Jeder Mensch hat das Recht auf Rettung, selbst Mörder und Folterer. Wir konnten und wollten uns nicht als Richter aufspielen. Die Justiz an Land muss sich dessen annehmen.

Nun hat indes die italienische Justiz sich die »Iuventa«-Crew vorgenommen. Ihnen und neun anderen Crew-Mitgliedern, den »Iuventa 10«, wird vorgeworfen, Sie hätten sogenannten Schleppern geholfen.

Das ist absurd. Und das ahnen die Ermittler wohl selbst. Normalerweise dauern die Ermittlungen nicht so lange wie in unserem Fall - schon drei Jahre. Der Gerichtstermin wurde ständig verschoben, mit dem Argument, dass die Staatsanwaltschaft noch nicht alle Beweise vorliegen hat, noch elektronische Daten auswerten muss. In meinem Fall soll ein Video, das mich zeigt, wie ich ein Holzboot hinter mir her ziehe, Beweis für »illegale Schleusung« herhalten. Lachhaft.

Das Prinzip der Unschuldsvermutung ist in unserem Fall ausgehebelt. Dabei haben wir nichts Unrechtes getan, sondern nach den Gesetzen gehandelt. Retten ist kein Verbrechen. Doch man will uns kriminalisieren, an den Pranger stellen - und alle anderen Retter und Retterinnen von Menschenleben gleich mit. Wir fordern, dass die Ermittlungen eingestellt werden. Es gibt keinen Grund mehr, den Prozess zu verschieben.

Und darüber sind Sie froh?

Ja, damit Klarheit geschaffen wird.

Bei einer Verurteilung drohen Ihnen 20 Jahre Haft?

Aber ein Freispruch wäre ein Signal, würde die Illegalisierung und Diskreditierung der Rettung von Flüchtlingen beenden, wäre eine Motivation für andere, die auch ein Herz für verzweifelte Menschen in Not haben.

Würden Sie es wieder tun?

Das steht jetzt nicht zur Debatte. Wenn wir wieder auslaufen würden, während die Ermittlungen laufen, wäre dies wieder ein Haftgrund. Man würde uns als »Wiederholungstäter« behandeln. Die »Iuventa« wurde ja auch beschlagnahmt, um ein Wiederauslaufen zu verhindern.

D »Iuventa 10« haben im April dieses Jahres den Menschenrechtspreis von Amnesty International erhalten. Gratulation.

Danke. Das war zugleich eine Ehrung und Bestätigung der Arbeit aller Seenotretter und -retterinnen. Wir werden auch von Anwälten von Amnesty International unterstützt, neben unseren italienischen Anwälten.

Was machen Sie derzeit?

Ich bin im Praktikum. Meine Themen sind ökologisches Bauen und Kreisläufe in der Landwirtschaft. Derzeit baue ich mit meinem Freund ein Tiny Haus in der Nähe von Freiburg.

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