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Die Erwartungen eines Überlebenden
Von Chemnitz nach Auschwitz und zurück: Justin Sonder ist im Alter von 95 Jahren gestorben
Es war eine schnelle Entscheidung aus dem Bauch heraus: »Monteur«, sagte Justin Sonder, als er an der Rampe in Auschwitz angekommen war. Der 17-Jährige ahnte, dass Menschen mit solchen Berufen gebraucht würden. Tatsächlich zeigte der SS-Mann nach links. Dort standen jene Männer und Frauen, die, wie sich zeigen sollte, im Gegensatz zu den nach rechts Verwiesenen zumindest die erste Nacht im Vernichtungslager überlebten. Für Sonder war es eine von sage und schreibe 17 Selektionen, die er in der Hölle von Auschwitz überstand. Das bedeutete enormes Glück, bereitete ihm aber, wie Vertraute sagten, zugleich lebenslange Pein - weil so viele andere nicht überlebten.
Justin Sonder, 1925 in Chemnitz in eine jüdische Familie geboren und dort nun kurz nach seinem 95. Geburtstag gestorben, hat seit den 90er Jahren oft über seine Zeit in Auschwitz berichtet, über die anschließenden Todesmärsche und die Befreiung durch US-Soldaten in einem fränkischen Dorf im April 1945. Noch wichtiger schienen ihm aber die Schilderungen der Zeit davor: die Jahre, in denen sich die NS-Diktatur etablierte, in denen sie die Gesellschaft vergiftete, Gegner verfolgte und vernichtete. Als auch in Chemnitz am 9. November 1938 die Synagoge auf dem Kaßberg brannte und jüdische Geschäfte wie das Kaufhaus Schocken im Zentrum verwüstet wurden, »waren wir geschockt«, sagte er. Da war er gerade 13 Jahre alt geworden. Sein Vater, ein SPD-Mitglied, tauchte unter. Das bewahrte ihn nicht davor, wie auch Sonders Mutter später in die Lager Theresienstadt und Auschwitz geschickt zu werden. Als Justin Sonder in diesem ankam, war seine Mutter schon in der Gaskammer ermordet worden. Vater und Sohn überlebten die KZ-Haft.
Nach dem Ende der Nazizeit sprach Sonder zunächst in der Öffentlichkeit kaum über das Erlebte. Er war aber aktiv in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), bis diese 1953 in der DDR aufgelöst und durch das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer ersetzt wurde. Daneben standen sein Beruf als Kriminalist und die Familie im Mittelpunkt. In den vergangenen Jahrzehnten äußerte er sich häufig als Zeitzeuge - und war altersbedingt in den zurückliegenden Jahren einer von nur noch wenigen Menschen, die aus eigenem Erleben über den Holocaust und dessen Anfänge erzählen konnten. Vor allem in Schulen in ganz Sachsen gab Sonder, der im Jahr 2015 mit der Ehrenmedaille des Internationalen Auschwitz-Komitees gewürdigt und zwei Jahre später zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Chemnitz ernannt wurde, in Hunderten Gesprächsrunden Auskunft.
Sonder war ein »mitreißender Erzähler«, wie seine Mitstreiter von der VVN-BdA würdigen. Diese hatte er 1990 wieder mitgegründet und gehörte dem ersten Landesvorstand Sachsens an. Sonder sei »nie ein vom ertragenen Leid gebrochener Mensch« gewesen, sagte Silvio Lang, Sprecher des Landesverbandes: »Diesen Triumph gönnte er seinen Peinigern nicht.« In Erinnerung bleibe Sonder einer jener Zeitzeugen, denen es »nicht um sich selbst, sondern ganz um eine Botschaft geht«, sagte Frank Richter, Landtagsabgeordneter der SPD und ehemaliger Chef der Landeszentrale für politische Bildung. Auf deren Homepage ist Sonder weiterhin in eindrücklichen Video-Interviews zu erleben.
Seine auch in solchen Aufzeichnungen fortlebende Botschaft lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Wehret den Anfängen! Vermittelt habe er sie, wie Lang sagt, stets freundlich, nie belehrend, aber doch nachdrücklich. Heutige Jugendliche, betonte Sonder, seien »an Auschwitz nicht schuld«. Überlebende wie er, fügte er hinzu, erwarten aber von den nachfolgenden Generationen, »Verantwortung zu übernehmen, dass sich das nie wiederholt«.
Sonder selbst hat die Erfahrung des Vernichtungslagers auch in dem Dreivierteljahrhundert seither entscheidend geprägt. »Ich lebe mit Auschwitz«, lautet ein erschütternder Satz in einer WDR-Dokumentation, die vor fünf Jahren entstand. Damals trat er mit 90 Jahren als Nebenkläger im möglicherweise letzten großen Auschwitz-Prozess auf, bei dem in Detmold ein ehemaliger KZ-Wachmann vor Gericht stand. Nochmals wurden die Pein, die unfassbare Grausamkeit des Lagersystems gegenwärtig. Auf die Frage, ob er erklären könne, was eine Selektion ist, sagte Sonder, er sei »der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig, um das darzustellen«.
Seine Erinnerungen hat Justin Sonder in dem Buch »105027 Monowitz - Ich will leben! Von Chemnitz nach Auschwitz - über Bayern zurück« veröffentlicht (gemeinsam mit Klaus Müller; NoRa-Verlag 2013).
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