Zerbrechlich, aber nicht zerbrochen

Der Schauspielerin Jutta Wachowiak zum 80. Geburtstag

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Wolfgang Heinz, der damalige Intendant des Deutschen Theaters (DT) in Berlin, entdeckte Jutta Wachowiak 1970 in Karl-Marx-Stadt und holte sie in die Hauptstadt. Er suchte offenbar nach einem Typus Schauspielerin, den er als Wiener im kühlen und für seine Ohren schneidigen Preußen eher selten antraf: weich und mädchenhaft mit heller Ausstrahlung. Dabei ist Wachowiak gebürtige Berlinerin. Engagiert am Theater in Karl-Marx-Stadt, spielte sie Luise in Friedrich Schillers »Kabale und Liebe«; Christian Grashof gab den Ferdinand. Ein Mädchen aus dem Volk, naiv, aber doch wissend. Schwach, aber nicht wehrlos.

Schnell wurde klar, dass dieses »Mädchen aus der Provinz« seine Abgründe hat - die so natürlich Scheinende war kompliziert, und die unbeschwert Lachende kämpfte oft mit großer Traurigkeit. Heinz besetzte sie als Sonja in seiner Inszenierung von Anton Tschechows »Onkel Wanja«. Wachowiak trat auf im grauen Kleid und mit dem Haarkranz einer alter Jungfer, gefangen im falschen Leben zwischen häuslicher Pflicht und hochfliegenden, aber scheu in sich weggeschlossenen Erwartungen. Fortan sah man sie auf der Bühne - und auch im Film - häufig als Frau an der Seite von Männern, die die Welt aus den Angeln heben wollen und den Frauen eine Ecke in der Küche reserviert halten.

Wachowiak machte etwas aus diesen Schicksalen, das man so nicht erwartet hätte. Das junge Mädchen, das sie noch 1972 als Charlotte in Ulrich Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« neben Dieter Mann als Edgar Wibeau war, verwandelte sich in wenigen Jahren in eine Schauspielerin, die innere Zerrissenheit in Regionen höchster Gefährdung treiben konnte, ohne je das Unmittelbare und Direkte aufzugeben. Das will sie bis heute nicht, es käme ihr wohl wie ein Verrat jener Seite von Kunst vor, die sie immer vehement verteidigt hat: das einfache Leben, das so oft unlebbar scheint.

Frauen und ihre Lebensgeschichten, die alltäglich, aber deshalb nicht trivial sind, fand Wachowiak 1978 in Maxie Wanders »Guten Morgen, Du Schöne« in der Regie von Horst Schönemann. Ein Abend mit Gesprächen von Frauen über ihr Leben, ein Stück Emanzipationsliteratur, selbstverständliches Selbstbewusstsein zeigend, aber ohne den militanten Furor jenes politischen Feminismus im Westen, der einen Geschlechterkrieg gegen die Männerwelt führte. 131 Vorstellungen von »Guten Morgen, Du Schöne« liefen im DT, das traf den Nerv der Zuschauer, von Männern und Frauen gleichermaßen.

Vielleicht führten Wachowiak diese Jahre folgerichtig zu zwei Rollen, die für sie entscheidend wurden. Auf der DT-Bühne als Maria Stuart im gleichnamigen Schiller-Stück in Thomas Langhoffs Regie. Und in dem Film »Die Verlobte« in der Regie von Günter Reisch und Günther Rücker. »Maria Stuart« wird ihr Duell mit Königin Elisabeth, deren Gefangene sie als schottische Königin ist. Gekommen war sie als Schutzsuchende, wurde aber von der Machtpolitikerin sofort eingekerkert. Es geht um drohende Rekatholisierung und den Thron von England. Es ist alles längst entschieden: Maria Stuart ist ihrer Rivalin ausgeliefert, und diese lässt sie am Ende in aller kühlen Berechnung hinrichten.

Es war auch ein Duell von Wachowiak mit Gudrun Ritter als Elisabeth. Zwei völlig verschiedene Spieltypen, zwei Welten des Theaters verkörpernd, stießen aufeinander. Die großartige Distanzspielerin Gudrun Ritter vermag es gewöhnlich, mit einer winzigen Handbewegung oder einer leichten Betonungsverschiebung ihr Gegenüber in den Orkus zu schicken. Sie verkörpert schneidende Kälte, die aus großer Ferne zu kommen scheint und keinen Widerspruch duldet. In Wachowiak hat sie ein beharrliches Gegenüber, das sie momentweise entwaffnet. Maria Stuarts erglühendes Gefühl ringt um Hingabe und Nähe. Eine Verlorene zwar, die am Ende aus Staatsräson ermordet wird, doch als Mensch besteht - anders als die mächtige Königin von England, die sich in ihrem politischen Triumph menschlich vernichtet weiß. Über 150 Mal wurde diese Parabel über Macht und Menschlichkeit am DT gespielt.

Zu gleicher Zeit entstand »Die Verlobte« als Defa-Produktion. Wer den Film heute, 40 Jahre nach seiner Premiere, wieder sieht, ist erschüttert von dieser Passionsgeschichte. Fast scheint es so, als habe Wachowiak ihre Maria Stuart in den Film mitgenommen, der fast nur im Gefängnis spielt. Die literarische Vorlage stammt von Eva Lippold, »Das Haus der schweren Tore«. 1935 war die Kommunistin vom »Volksgerichtshof« wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden. Sie wäre wohl mit ein oder zwei Jahren davongekommen - das Gericht war bereit, sie als politisch verführte Mitläuferin zu behandeln. Doch die Angeklagte hielt stattdessen eine flammende Rede über ihre Ideale und bekam neun Jahre. Mutig, aber neun Jahre im Zuchthaus Waldheim sind fast eine Unendlichkeit. Sie übersteht sie, weil sie sich an der Liebe eines Mannes festhält, der mit ihr im Widerstand kämpfte. Sie verlobt sich aus dem Gefängnis heraus mit ihm.

Erst 1971 vermochte Lippold darüber zu schreiben, ein heute fast vergessenes, höchst eindrucksvolles Dokument, in dem es über die Hauptfigur heißt: »Hellas Tag, nicht angerührt oder abgelenkt durch jenes Phänomen, das der Mensch Leben nennt, verläuft vom Morgen bis zum Abend im Rhythmus eines vorgeschriebenen Einerleis. Ein Einerlei, das als graue Trasse sich verliert in die horizontalen Stunden, die eine wie die andere aussehen, erscheinen und dahinschwimmen, raum- und zeitlos, mit herzabschnürender Automatik.« Herzabschnürend ist es, Wachowiak als Hella gefangen und nach und nach zerrieben zu sehen. Was sie aber dann doch rettet, ist einzig die Kraft ihres Glaubens. Die Zerbrechliche zerbricht nicht. Der Film hatte seine Prüfung in dem Moment bestanden, als Lippold bei der Studioabnahme ihr filmisches Alter Ego in die Arme nahm, wohl wissend, auch die Schauspielerin hatte, das Martyrium spielend, es durchlitten. »Die Verlobte« gehört zum Weltkino, auch wenn Wachowiak dafür keinen Oscar bekam, sondern nur einen Nationalpreis I. Klasse der DDR.

Die »Wende« traf Wachowiak in einer schwierigen Lebenssituation. In einem ausführlichen Gespräch mit Silke Panzer (»Von wegen blauäugig! Schauspielerinnen in bewegten Zeiten«) sagt sie es in einem für sie typischen Satz: »Die in der Mitte sind einfach langweilig. Für Schreiber, für Männer, für sich selbst. Ich war mir selber langweilig.« Depressionen nehmen ihr die Spiellust, die 90er Jahre am DT wirken ohnehin epigonal, echte Aufbrüche bleiben aus.

2006 verlässt sie nach 35 Jahren das Theater in der Berliner Schumannstraße und geht noch einmal für vier Jahre nach Essen. Anselm Weber, mit dem sie 1992 in einem vom alten DT-Ensemble fast boykottierten »Tartüff« gespielt hatte, holt sie. Und sie bricht - bereits im Rentenalter - ins Ungewisse auf, um sich noch einmal in der »Provinz« auszuprobieren. Es habe ihr gutgetan, sagt sie heute. Neu anfangen ist immer gut. Am Sonntag wird Jutta Wachowiak 80 Jahre alt.

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