Wann ist man wirklich Zuhause?
Vietdeutsche Lebensrealitäten im gesellschaftlichen Wandel
»Obgleich ich nie geflüchtet war, machten die Institutionen und Strukturen aus mir ein Flüchtlingskind«, schreibt NhuMi, die heute als Pädagogin arbeitet. Zur Welt kam sie vor knapp drei Jahrzehnten in Südwestdeutschland. Ihr Vater war als vietnamesischer Vertragsarbeiter in die DDR gelangt; ihre Mutter und ältere Schwester konnten Anfang 1990 in den ostdeutschen Staat übersiedeln. Die Familie übersiedelte aus der Noch-DDR in die alte Bundesrepublik. Dort erging es ihr wie vielen Menschen aus Vietnam: Sie erhielten immer nur für wenige Tage beziehungsweise einige Monate eine Duldung oder Aufenthaltsbefugnis - nur, wenn die Eltern nachweisen konnten, dass sie einer geregelten Arbeit nachgingen. Diese Auflage bestand bis ins Jahr 1997 hinein, bis sich schließlich eine Innenministerkonferenz zu einer Bleiberechtsregelung für ehemalige DDR-Vertragsarbeiter durchringen konnte.
Die Verfasserin dieser Rezension hat in den 1990er-Jahren journalistisch über die Verweigerung von Aufenthaltserlaubnissen für Menschen aus Südostasien berichtet und ist dennoch überrascht, wie viele neue Erkenntnisse sie noch bei der Lektüre des hier anzuzeigenden Buch gewinnen konnte. NhuMi erzählt mit frappierender Offenheit aus einem Leben »auf Rabatt«, von Ungewissheiten und Ängsten. Sie macht deutlich, was stetige »Bettelei« bei den Behörden mit den Betroffenen macht. Die Gewährung eines Aufenthaltsrechtes unter der Voraussetzung, dass man seinen Lebensunterhalt selbst verdient, ließ »die Identitäten meiner Eltern als Menschen … über die Jahre in dieser Gesellschaft zu billigen Arbeitskräften gerinnen«, so NhuMi. Die Unsicherheit, das Familienleben planen und sich in der neuen Heimat einrichten zu können, »hinterließen in der Psyche und in den Seelen meiner Eltern tiefe Spuren. Sie erzeugten Krankheiten.«
Die Kinder der DDR-Vertragsarbeiter*innen sind inzwischen erwachsen geworden. Sie haben im VLab Berlin, einer Vereinigung, die Kultur- und Bildungsangebote für in Deutschland lebende Vietnamesen und vietnamesischstämmige Einwandererkinder, ein Forum zum Erfahrungsaustausch gefunden. Der von Vlab mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Band vereint journalistische Essays, Interviews sowie sozialwissenschaftliche Beiträge von und über Vietdeutsche, wie sich unsere Mitmenschen mit vietnamesischen Wurzeln selbst nennen.
Zu deren Erfahrungen gehört leider auch Alltagsrassismus. »Wenngleich ich es mit guten Noten auf das Gymnasium schaffte«, schreibt NhuMi, »spürte ich nur zu deutlich, dass noch mehr nötig war, um dazu zu gehören.« Abwertende Bemerkungen von Mitschüler*innen und Lehrer*innen über ihr Aussehen und ihre Herkunft überschatteten ihre Schulzeit. »Wurdest du eigentlich nach der Geburt mehrmals gegen die Wand geworfen oder warum ist dein Gesicht so platt?«, ist nur ein Beispiel von vielen Beleidigungsarten und Diskriminierungen. Eine weitere gemeinsame Erfahrung ist der Leistungsdruck, dem sie sich stärker als andere Kinder und Jugendliche ausgesetzt sahen. Nicht nur durch die Umwelt, sondern auch die eigenen Eltern, wie der Pädagoge Nguyen Minh Hoang in seinem Aufsatz bemerkt: Neben tradierten konfuzianistischen Einflüssen sei der angestrebte Bildungserfolg der Deutschvietnamesen auch in den elterlichen Migrationserlebnissen begründet, sich in der »Diaspora« behaupten zu müssen.
Ein eindrucksvolles, zum Nachdenken anregendes Buch. Um jedoch eine über die Gruppe der Betroffenen und der Fachöffentlichkeit hinaus gehende Leserschaft zu erreichen, wäre es sinnvoll gewesen, wenn die Herausgeber Hintergrundinformationen zur vietnamesischen Migration nicht nur in Fußnoten verpackt oder durch Literaturhinweise ersetzt hätten. Bei einer wünschenswerten zweiten Auflage für einen breiteren Leserkreis sollten entsprechende zusätzliche Beiträge aufgenommen werden.
VLab Berlin (Hg.): Ist Zuhause da, wo die Sternfrüchte süß sind? Vietdeutsche Lebensrealitäten im Wandel. Regiospectra, 135 S., geb., 19,90 €.
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