Himmlische Euphorie und Enttäuschung

Zeitreisen in die DDR: Neuheiten von Icestorm, gefunden im DEFA-Archiv

Fast möchte man die heutige Jugend bedauern, ist ihr doch ein solch einzigartiges, euphorisches, unvergesslich verbindendes Ereignis nicht mehr vergönnt, wie jenen, die 1973 jung waren. Berlin, Hauptstadt der DDR, lud zu den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten. Ein DEFA-Dokumentarfilm aus eben jenem Jahr unter der Regie von Joachim Hellwig erinnert daran. Er kommt gänzlich ohne Kommentar aus. Was vielleicht auch gewollt war, um Agit-Prop-Kitsch zu vermeiden. Gleichwohl, die seinerzeit in der DDR obligatorischen Bilder eines lachenden, jovial den Massen zuwinkenden oder (unrhythmisch) klatschenden SED-Chefs fehlen auch hier nicht; zwei Jahre zuvor hatte Erich Honecker seinen Ziehvater Walter Ulbricht mit Moskauer Segen gestürzt. Das große Fest der Weltjungend wurde ob dessen Ableben just am 1. August 73 nicht unterbrochen.
Der Film beginnt mit einem phänomenalen Blick aus dem Weltall auf die Erde, untermalt von Trommelwirbel und dem Song »Wer die Erde liebt«, einem Hit aus dem Vorjahr, intoniert von Frank Schöbel mit Uve Schikora & Band: »Wir brechen die alten Ketten/ Wir werden die Erde retten/ Wir grüßen in allen Sprachen ...« Die ins Stadion der Weltjugend (einstiges Walter-Ulbricht-Stadion) zur Eröffnung einziehenden Jugendlichen schwenken Rote Banner, Nationalflaggen und Fahnen von Befreiungsbewegungen und Befreiungsarmeen und skandieren Losungen in allen Sprachen: »Hoch die internationale Solidarität«, »Ho Ho Ho Chi Minh«, »Venceremos« ... Strahlende, stolze, selbstbewusste Gesichter, schwarz, gelb, weiß. Junge Menschen in bunten Trachten, aus dem Vielvölkerstaat UdSSR, aus Lateinamerika und Afrika. Zwischengestaltet Schreckensbilder von Krieg, Folter, Hunger in der Welt. Aber auch von triumphierenden Freiheitskämpfern, mit und ohne Uniform. Zu den über 25 000 Gästen aus 140 Staaten und acht Millionen Besuchern gehörte eine Delegation aus der Bundesrepublik, darunter Mitglieder der Jungen Union (sic)!
Besonders frenetisch gefeiert und begeistert umringt in jenen Tagen, vom 28. Juli bis zum 5. August 1973, waren Vertreter des über die US-Interventen triumphierenden vietnamesischen Volkes, die jungen Menschen aus dem Chile der Unidad Popular unter Salvador Allende (die einen Monat darauf vom Putschistengeneral Augusto Pinochet ins Exil getrieben werden) sowie Abgesandte der südafrikanischen SWAPO, mosambikanischen FRELIMO und der nicaraguanischen Sandinisten. Die eingefangenen Dialoge der Jugendlichen aus aller Herren Länder auf Straßen und Plätzen, auf und vor den fast hundert Rockbühnen in der Stadt lassen jeglichen Kommentar in der Tat nicht vermissen. Die am meisten umjubelten Stars des Festivals waren wohl die im Sommer zuvor – auch mit einer DDR-Postkartenkampagne – aus US-Gefängnis freigekämpfte Symbolfigur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung Angela Davis und Gladys Marín, Generalsekretärin des chilenischen Kommunistischen Jugendverbandes, sowie Jassir Arafat von der PLO, der vor laufender Kamera ob des Sieges in Vietnam seine Zuversicht auf ein bald freies Palästina bekundet.
Wer noch einmal den Atem jener, von Aufbrüchen und Aufbruchsversuchen, Revolten und Revolutionen in West und Ost, Nord und Süd geprägten 70er Jahre ungefiltert spüren möchte, der wird mit diesem von der Firma Icestorm auf DVD gepressten DEFA-Streifen gut bedient. Gleiches gilt für andere Filme, die das Unternehmen aus dem Erbe der Babelsberger Studios zu DDR-Zeiten auf den Markt bringt. Gewiss, manches wirkt heute verkitscht, naiv, allzu heroisch, aus der Zeit gefallen. Doch einiges gibt zu denken. So erinnert die DVD »Die Bezirke der DDR«, ebenfalls eine Neuheit von Icestorm, an unbestreitbar grandiose Aufbauleistungen von Rostock bis Suhl nach dem verbrecherischen Krieg der Nazis – natürlich, wie hier mehrfach betont: »unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei«. Die hier gebündelten Kurzfilme regen zugleich zum Vergleich von Vor- und Nachteilen des heutigen Föderalismus mit denen der 1952 eingeführten und 1990 wieder abgeschafften Verwaltungseinheiten der 14 DDR-Bezirke an.
Und wer weiß heute eigentlich noch, dass die DDR anfangs selbst Flugzeuge baute? Nicht nur nach sowjetischen Lizenzen. Die Icestorm-CD »Interflug« gewährt Einblicke in Produktionshallen der VEB Flugzeugwerke Dresden wie auch in Konstruktionsbüros der einstigen sächsischen Residenzstadt, in denen – wie angepriesen – das »erste Düsenpassagierflugzeug in Deutschland«, Typ 152, Gestalt annahm. Nach drei Prototypen wurde das Projekt indes wegen ausbleibender Nachfrage aus der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern ad acta gelegt. Dieser Film über das erdumspannende Liniennetz der Interflug – nach Paris, London, Rom und Mailand, Peking und Bombay – dürfte bei DDR-Zuschauern damals jedoch bitteren Nachgeschmack hinterlassen, Enttäuschung vermehrt haben. Übrigens: Die nach verlorenem Rechtsstreit mit der Lufthansa 1958 gegründete Interflug existierte als stark verkleinertes Charta-Unternehmen noch bis 2005.

Kurzum: Zeitreisen mit den Funden des Kollektivs von Icestorm in der DEFA-Hinterlassenschaft sind allemal erlebenswert.

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