Demokratisiertes Lexikon oder öffentliche Toilette?

Wikipedia wird 20 Jahre alt - eine Dokumentation zeigt die Widersprüche eines einst utopischen Projektes

Das gesamte Wissen der Menschheit ist nur einen Klick entfernt.« Das behaupten zumindest die Wikipedianer*innen selbst. Das Online-Lexikon, das heute mehr als 58 000 000 Artikel in 300 Sprachen beinhaltet, wurde im Jahr 2001 von den US-Amerikanern Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Die Idee dahinter war zu jener Zeit ziemlich radikal: Das Wissen, das in den Händen einer kleinen Elite war, allen frei zugänglich zu machen. 20 Jahre später hält der eine Mitgründer Wikipedia für immer noch radikal, der andere wiederum ist ein enttäuschter Kritiker geworden.

Wie es dazu kam, erzählt eine Dokumentation von Jascha Hannover und Lorenza Castella. In »Das Wikipedia-Versprechen - 20 Jahre Wissen für alle?« kommen außer den Wikipedia-Gründern auch -Autor*innen, -Nutzer*innen und -Kritiker*innen zu Wort. Ob das, was einst das Versprechen dieser digitalen Enzyklopädie war, nämlich frei, demokratisch und neutral zu sein, sich erfüllt hat, ist die zentrale Frage.

2001 wurde der erste Eintrag auf Wikipedia erstellt. Die benutzte Software dafür, die schon 1995 erfunden wurde, hieß WikiWikiWeb - »wiki wiki« bedeutet auf Hawaiianisch schnell: Jeder konnte den Text auf der Seite bearbeiten, und wenn er auf »Speichern« klickte, war der geänderte Text sofort online. Das klang nach jeder Menge Macht - und in kurzer Zeit dann nach jeder Menge Problem.

Nicht alle waren glücklich mit dieser Art demokratisierten Wissens, vor allem die Besitzer*innen dicker Lexikonbände in den Akademien nicht. Viele Professor*innen akzeptierten die Wikipedia nicht als seriöse Referenz. Manche bezeichneten sie als Junkinformation, die wie Junkfood nur attraktiv und schnell, aber qualitativ weniger wert sei. Ein ehemaliger Chefredakteur der »Encyclopaedia Britannica« verglich Wikipedia sogar mit einer öffentlichen Toilette.

Doch wie sahen die alten, sogenannten glaubwürdigen Enzyklopädien aus? In Band 19 der elften Ausgabe der Britannica etwa gibt es einen Eintrag über Schwarze (Negro), der lautet: »Geistig ist der Schwarze dem Weißen unterlegen. Diese Erkenntnis von F. Manetta, die nach einer langen Studie der amerikanischen Schwarzen gemacht wurde, kann als allgemeingültig für die ganze Rasse angesehen werden.« So etwas galt selbst nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch als »Fakt«.

Bei einem Online-Lexikon kann es ebenso sein, dass jemand, der Fakten erwartet, Fiktionen bekommt. Auch bei der Tag für Tag populärer gewordenen Wikipedia wurden gern und oft Artikel manipuliert. »Wir wissen, dass vom US-Kongress aus Wikipedia bearbeitet wurde«, berichtet Katherine Maher, Vorstandsvorsitzende der Wikimedia Foundation in der Dokumentation. »Dass jemand aus der russischen Duma Artikel umgeschrieben hat. Auch vom britischen Parlamentsgebäude aus wurden Änderungen vorgenommen.« Die Wikimedia Foundation ist für eine funktionierende Infrastruktur der Webseite zuständig, nimmt aber keinen Einfluss auf die Inhalte.

Der deutsche Journalist Marvin Oppong hat beispielsweise herausgefunden, dass von einer IP-Adresse aus, die Daimler gehört, Änderungen an dem Wikipedia-Artikel über Daimler vorgenommen wurden: »Da wurden Dinge über die Beschäftigung von NS-Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg durch Daimler herausgelöscht«, so Oppong. Gegen solche Manipulation der Informationen, und um Glaubwürdigkeit aufzubauen, entschloss sich das Wikipedia-Team, die Seiten der Online-Enzyklopädie selbst zu bewachen. 2002 wurden Administrator*innen eingeführt, die ein paar mehr Funktionen haben als normale User*innen. Sie können Leute blockieren oder sogar Artikel löschen. Für Letzteres ist jedoch die Abstimmung der Gemeinschaft notwendig.

Das alles führte zu einer strengen Qualitätskontrolle: Nun sollen sich die Nutzer*innen an Regeln halten, sie müssen Relevanzkriterien erfüllen und den Artikel mit akzeptierten Quellen belegen, sonst ist er weg. Heute kommen auf 92 000 000 registrierte User*innen weltweit 3900 Admins.

Was aber ist relevant? Was sind die Kriterien, damit eine Quelle glaubhaft ist? Im Gegensatz zu dem, was oft über sie gesagt wird, ist Wissenschaft kein neutrales Gebiet. Zumindest seit den postkolonialen Theorien weiß man, dass die Wissenschaften vielmehr mit Machteffekten operieren als mit »Fakten«. Dazu kommt noch das akademische Verifikationssystem: Ein wissenschaftlicher Aufsatz wird etwa nur dann verifiziert, wenn er sich auf die bestehenden, als glaubwürdig akzeptierten Quellen - Geschichtsbücher, Lexika - bezieht. Dadurch werden jene Quellen noch legitimer, denn je mehr diese referiert werden, desto glaubwürdiger wirken sie: So wird ein immer wieder sich selbst referierendes System produziert. Jetzt ist die Frage: Was steht eigentlich in diesen großen, »glaubwürdigen« Quellen? Die Wahrheit? Die Fakten? Wer hat diese geschrieben? Über wen?

Ist die Britannica mit ihren »Fakten« über die Schwarzen nun ein »ach sehr altes« Beispiel? Nennen wir »Die Geschichte der Kunst« von Ernst Gombrich, eines der Standardwerke zur Kunstgeschichte, das heute in den Kunsthochschulen der Welt studiert und immer wieder referiert wird. Wie viele Seiten wurden darin dem französischen Impressionismus gewidmet? Wie viele der Kunst aus Afrika? Oder wurde Afrika erst dann erwähnt, als es um einige Werke von Pablo Picasso ging, die anscheinend von »afrikanischen Masken« inspiriert wurden? Und wie viele Künstlerinnen kommen darin vor?

In Südafrika gibt es etwa erst seit 1994 schwarze Historiker*innen. Ein großer Teil der afrikanischen Geschichtsschreibung wurde nicht von Afrikaner*innen verfasst. Man kann nicht von Afrikas Geschichte erzählen, ohne von Großwerken deutscher Philosophen ganz zu schweigen. Wir begnügen uns hier mit einem Zitat von Hegel: »Afrika ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen.«

Auch die Wikipedia basiert auf solchem System der Wahrheitsfindung. Sie möchte keine neue Relevanz schaffen, sondern nur die existierende festhalten. Die deutsche Science-Fiction-Autorin und Wikipedianerin Theresa Hanning erzählt in der Doku, dass sie sich gerne über die Science-Fiction-Werke ihrer Kolleginnen in Deutschland informieren wollte. Es stellte sich heraus, dass es keine Wikipedia-Seite dazu gab. Sie beschloss also, selber eine Liste dazu zu erstellen. Das endete skandalös. Die Liste wurde 2019 von der Webseite gelöscht. Die Begründung: Das sei eine »überflüssige Liste, die Redundanzen schafft, vom Inhalt her unklar und vom Konzept her dubios ist«. Nach einem massiven Shitstorm wurde die Seite wieder freigeschaltet. Jan Böhmermann sagte in »Neo Magazin Royale« dazu: »Jeder kann (bei Wikipedia) Artikel schreiben und so langsam in der Hierarchie aufsteigen. Also jede männliche weiße Kartoffel aus biodeutschem Anbau jedenfalls. Die Geschlechter-Verteilung bei den Autoren der deutschen Wikipedia sieht nämlich so aus: nur 10 Prozent Frauen.«

Bildet Wikipedia also das gesamte menschliche Wissen ab? »In der Wikipedia handeln circa 80 Prozent der Biografien von weißen Männern und die restlichen 20 Prozent sind Frauen, andere Regionen und Kulturen«, so Ivonne González Núñez in der Dokumentation. Sie ist die Gründerin der Noircir Wikipédia - ein Projekt, das der Wikipedia Referenzen, Artikel und Informationen zur Kultur der afrikanischen Menschen und der afrikanischen Diaspora hinzufügt.

So sieht das einst radikale Lexikon, das eigentlich mit der traditionellen Wissenschaft nichts zu tun haben wollte, 20 Jahre nach seiner Gründung der traditionellen - westlichen - Wissenschaft sehr ähnlich. Zwar nennen sich die Wikipedia-Autor*innen nun Neue-Welt-Historiker*innen, aber sie haben fast dasselbe Problem der alten Geschichtsschreibenden: Sie möchten global wirken, ohne global denken zu können.

»Das Wikipedia-Versprechen - 20 Jahre Wissen für alle?«: Deutschland 2020. Regie: Jascha Hannover, Lorenza Castella. 52 Min. Verfügbar bis 4. April auf Arte.

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