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Ist das Kunst oder bloßer Kunsthonig?
Nach 20 Jahren Berlinale-Eröffnungsfilm-Berichterstattung ein Blick zurück
Im vergangenen Jahr endete die Berlinale am 1. März. Der Wettbewerb zitterte sich gerade noch so über die Ziellinie, denn ein Abbruch lag in der Luft. Kein Hüsteln war im großen Berlinale-Palast zu hören: die angespannte Ruhe vor dem Lockdown. Dieses Jahr ist die Berlinale komplett anders. Es ist die Stunde der tristen Online-Ersatzhandlungen und vagen Versprechen: Vielleicht wird nächstes Jahr alles besser, also wie früher?
Zeit für einen Rückblick auf 20 Jahre Berlinale-Eröffnungsfilme von 2000 bis 2020, die ich sämtlich für diese Zeitung besprach. Das vergangene Jahr hat uns auch gelehrt: Sich erinnern ist wichtig, denn was man vergisst, existiert nicht mehr. Selbstbilder geraten so in Schieflagen, kollidieren irgendwann mit unerfreulichen Fremdbildern.
Filme also gehören nicht nur zum Bildgedächtnis ihrer Zeit, sondern ebenso zur individuellen Bildungsgeschichte: Einiges von dem, was man gesehen hat, lebt frisch wie am ersten Tag in einem weiter, anderes ist auf unheimliche Weise abgesunken oder gar wie ausgelöscht, und man könnte schwören, dass man es nie gesehen hat. Und dann staunt man, liest man schwarz auf weiß, was man selbst darüber geschrieben hat. Offenbar ging es aber nicht tief genug, um zu bleiben. Archive - auch das dieser Zeitung, das jedem Leser offen steht - erweisen sich somit als nötige Korrektive des Erinnerns, holen Vergessenes wieder zurück.
Warum ein Text über Eröffnungsfilme, nicht über die Gewinnerfilme oder Jurypräsidenten, was auch lohnend wäre? Weil die alljährliche Berlinale-Eröffnungsberichterstattung unter einem extrem sportiven Aspekt stand. Daran war vor allem Dieter Kosslick schuld, von 2002 bis 2019 Festivaldirektor. Sein Vorgänger Moritz de Hadeln, ein Routinier, der von 1980 bis 2001 die Berlinale leitete, war denkbar unbeliebt bei Regisseuren, Schauspielern und nicht zuletzt der deutschen Filmindustrie, die sich von ihm in der Filmauswahl benachteiligt fühlte. Berlinale-Preisverleihungen unter de Hadeln waren berüchtigt. Wenn Bären-Gewinner sich zu lange bei Eltern, Freunden und sonstigen Mitstreitern bedankten, schob er sie einfach weg vom Mikrofon. Eine etwas rüde aber auch souveräne Handlung, wie sie bei seinem Nachfolger Dieter Kosslick, der sich bei allen beliebt machen wollte und am Ende seiner Amtszeit wie sein eigenes Marketing-Maskottchen wirkte, nie vorgekommen wäre.
Aber de Hadeln war bei einer Klientel gar nicht so unbeliebt: den Filmkritikern. Was auch daran lag, dass die Berlinale bis 2001 - dem Umzug an den Potsdamer Platz - unter Platzproblemen litt. In den Zoo-Palast kamen nie alle akkreditierten Journalisten zugleich hinein, was dazu führte, dass man die wichtigsten Filme, quasi konspirativ, zumindest den einheimischen Filmjournalisten bereits im Vorfeld vorführte. So sah ich im Jahr 2000 den grandiosen Eröffnungsfilm »The Million Dollar Hotel« von Wim Wenders (ein Film, der sich einbrannte) bei einer informellen Vorführung in irgendeinem Kreuzberger Szenekino. Das war ein bequemes Arbeiten: Am Tage der Eröffnung lag der Text parat. Das nd-Archiv hat aufbewahrt, was zu lesen war: »Eine nüchterne Orgie des Elends voll genialer Verrücktheit! Ein glasklarer Großstadt-Rausch.« So was schreibt man, wenn man zu viel Zeit zum Formulieren hat.
Mit Kosslick wurde das Arbeiten für die Journalisten schwerer, die Wettbewerbsfilme, besonders aber der Eröffnungsfilm, waren unter ihm tatsächlich geheim, niemand - außer ihm und der Auswahljury - hatte sie zuvor gesehen. Die Pressevorführung am Tage der Berlinale-Eröffnung war dann die eigentliche Weltpremiere. Man stellte sich also alljährlich mindestens eine halbe Stunde vor Beginn in die Schlange der Journalisten aus aller Welt, um auch wirklich einen Platz im Saal für die Vorstellung zu bekommen, die pünktlich um 12 Uhr begann. Ging der Film länger als zwei Stunden, wurden alle Anwesenden unruhig: Die Schreibzeit schrumpfte nun unter das machbare Maß.
Nie habe ich versucht, nach dem Eröffnungsfilm einen Arbeitsplatz im Pressezentrum im daneben liegenden Hyatt-Hotel zu erobern (das war ohnehin aussichtslos), sondern bin immer direkt zur S-Bahn gesprintet und nach Hause gefahren. Zeitvorgabe dafür: eine halbe Stunde. Spätestens um 15 Uhr musste man zu schreiben beginnen, weitere 90 Minuten später, egal wie weit man war, galt es, den Text zu senden, denn um 17.30 Uhr ging die Seite in Satz. Ein abenteuerliches Unterfangen - und man konnte nichts vorarbeiten, wusste nie, was man zu sehen bekam. Im Stillen betete ich jedes Mal, dass die Technik gerade an diesem Tag nicht havarieren möge. Aber jeder weiß, wie gefährlich es ist, wenn man die Computer-Tasten allzu hektisch drückt; manchmal ist dann plötzlich fort, was doch schon fast fertig schien.
Nur einmal ging nichts mehr, das war 2008 bei Martin Scorseses »Shine a Light«, einem rasanten Dokumentarfilm über ein Konzert der »Rolling Stones«. Die Band hatte dem Regisseur gemeinerweise nicht verraten, welche Titel sie in welcher Reihenfolge spielen würde, das war aber für die Kameraeinstellungen entscheidend. Und so wurde dies auch ein Film über schnelle Reaktionen an der Grenze zur Panik. Denn es gab immer nur einen Versuch. Kurz nach 16.30 Uhr sendete ich den Stones-Eröffnungsfilmtext, der Platz auf der Seite war frei gehalten worden, musste nun aber auch gefüllt werden. Um 17 Uhr kam die ungeduldige Rückmeldung - kein Text da. Auch wiederholte Sendeversuche misslangen. Fünf Minuten später raste ich mich einem Stick in der Hand los, mit einem Taxi, so hoffte ich, in einer viertel Stunde im Redaktionsgebäude am Ostbahnhof zu sein. Ich bekam tatsächlich ein Taxi, das sofort im Feierabendverkehr stecken blieb. Noch zehn Minuten bis Druckfreigabe. Ich wusste, dass meine Kapitulation nun bevor stand. Dann die erlösende Nachricht per Handy aus der Redaktion - der Text sei inzwischen doch noch eingetroffen. Manchmal hatte man an Berlinale-Eröffnungstagen einfach Glück, keinen Herzinfarkt zu bekommen.
Das wäre aber auch unverhältnismäßig gewesen, denn Eröffnungsfilme sind zumeist Kompromissentscheidungen. Gerade Kosslick wollte es allen recht machen, der Filmindustrie, dem Publikum, den Stars auf dem roten Teppich, den Sponsoren. Und so waren dann oft auch die Filme. Manche von ihnen schienen gerade mal unterer Durchschnitt, gern mit Musik und Gesang. So 2003 das Musical »Chicago«, 2007 »La vie en rose« (über Édith Piaf) und 2017 »Django - Ein Leben für die Musik« (über Django Reinhardt). Western waren auch beliebt, 2004 der passable »Unterwegs nach Cold Mountain«, oder 2011 »True Grit« von den genialen Coen-Brüdern. Historienfilme kamen zur Eröffnung ebenfalls vor, etwa 2012 der zähe »Leb wohl meine Königin!« über die Kammerzofe von Marie Antoinette.
Dem deutschen Film sollte es unter Dieter Kosslick besser gehen, so war der Plan. Tom Tykwer eröffnete gleich zwei Mal die Berlinale, 2002 mit »Heaven« (ein in die Irre gehender Versuch, das Übernatürliche zum Thema zu machen) und 2009 mit dem glattpolierten Politthriller »The International«.
Wes Anderson glänzte 2014 mit »Grand Budapest Hotel« und 2018 mit dem Animationsfilm »Isle of Dogs«. Dieser visionäre Pandemiefilm handelt von einer Hundeseuche (!), mit Katzen als Drahtziehern. Die Hunde werden auf eine Insel verbannt, aber haben fest vor, zurückzukehren. Joel und Ethan Coen eröffneten 2016 nochmals das Festival mit »Hail, Caesar!«, einer aberwitzigen Tragikkomödie über die Paranoia kommunistischer Unterwanderung während eines Monumentalfilmdrehs im Hollywood der 50-er Jahre.
Dafür hatte Kosslick immer einen starken Sinn: Filme, die das Absurde des Realen zeigen. Von den deutschen Regisseuren profitierte von dieser Fähigkeit vor allem Christian Petzold (mit »Gespenster«, »Yella«, »Barbara«, zuletzt »Undine«), der beständig mit den Aggregatzuständen von Wirklichkeit spielt und die Kritiker immer wieder neu vor die verzweifelte Frage stellt: Ist das nun Kunst oder bloßer Kunsthonig? Ein echter Festivalregisseur war geboren.
Und da wir beim Erinnern sind: Es gibt Filme, die vergisst man nicht, vielleicht weil man sie nie ganz verstanden hat, vielleicht waren sie auch nie ganz geglückt, dazu gehört »Das Turiner Pferd« des Ungarn Béla Tarr, der nur in einer Nebenreihe lief. Die Apokalypse anhand einer unerhörten Bildverlangsamung im Sujet der Steppe. Ein unendlicher Lockdown - Meditation am Abgrund, ebenso faszinierend wie schrecklich.
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