Wenn die Existenz ins Wanken gerät
Berlinale-Filme über die Krise, die Liebe und die Bigotterie
Das kleine Städtchen L’Étretat in der Normandie - ja genau, dort, wo der berühmte Elefanten-Felsen steht - dürfte der Inbegriff von Beschaulichkeit in der französischen Provinz sein. Hier versieht der Polizist Laurent seinen Dienst. Die Idylle wird höchstens mal von einem suizidalen Pariser gestört, der sich von den Klippen stürzt und dabei das Hochzeitsfotoshooting chinesischer Touristen derangiert. Die Delikte, mit denen er es zu tun hat, sind ein entfernter Widerhall der Probleme und der Bruchlinien, die sich durch die französische Gesellschaft ziehen.
Erst als er versehentlich einen Menschen erschießt, einen Bauern, der sich den EU-Richtlinien widersetzt und deshalb sein Vieh verlieren soll, gerät seine bürgerliche Existenz ins Wanken und beginnen sich alle Sicherheiten aufzulösen. Xavier Beauvois, als Regisseur, aber auch als Schauspieler ein alter Berlinale-Bekannter, erzählt in seinem Wettbewerbsbeitrag »Albatros« parabelhaft von der Krise, in der das Land gefangen ist. Unter der Oberfläche sind die unterschwelligen Spannungen fühlbar, die das Land zu zerreißen drohen. Das gesellschaftliche Gefüge gerät zusehends durcheinander und die Vorzeichen eines nahenden sozialen Bebens mehren sich. Immerhin lässt Beauvoir mit einem versöhnlichen Ende die Möglichkeit der Katharsis offen.
Die deutsche Regisseurin Anne Zohra Berrached erregte 2016 Aufsehen mit ihrem Film »24 Wochen«, in dem Julia Jentsch als werdende Mutter mit der Aussicht konfrontiert wird, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Beeindruckend war die Stringenz, mit der Berrached von einem moralischen Konflikt erzählte, in dem es keine einfachen Lösungen gibt. In der Sektion Panorama läuft nun ihr neuer Film »Die Welt wird eine andere sein«, und was sich in ihren vorherigen Filmen schon zeigte, setzt sich hier fort: wie kaum ein/e andere/r deutsche/r Regisseur/in ist sie in der Lage, schnörkellos und mit eindrucksvoller Wahrhaftigkeit Figuren zu kreieren, die authentisch wirken und deren lebendige Alltagssprache nicht hinter Drehbuchfloskeln verschwindet. Mit der Ende der 1990er spielenden Geschichte einer interkulturellen Liebe zwischen der in Deutschland lebenden Türkin Asli und dem Libanesen Saeed, der sich zunehmend radikalisiert, beweist sie ihr besonderes Gespür dafür, glaubwürdige Figuren und Geschichten zu kreieren, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann. Das ist leider im deutschen Film nicht allzu häufig.
Dieses Gespür beweisen auch viele Filme aus Rumänien, sodass mit Recht von einer rumänischen oder auch osteuropäischen Nouvelle Vague gesprochen wird. Regisseur Radu Jade, ebenfalls kein Neuling im Berlinale-Wettbewerb, präsentiert in seiner Groteske mit dem umständlichen Titel »Bad Luck Banging or Loony Porn« ein deprimierendes Sittenbild des heutigen Rumänien. Vordergründig geht es um ein versehentlich online und viral gegangenes privates Pornovideo, dessen Protagonistin leider Lehrerin ist. In dem scheinheiligen Tribunal in der Schule entlarvt der Film die restaurativen Saubermann-Attitüden und die pseudopolitische Besserwisserei, die den Social-Network-Diskurs prägen. Darüber hinaus zeigt uns Radu Jade in langen Kameraschwenks durch die Bukarester Innenstadt all die Verheerungen des entgrenzten, entfesselten Vulgärkapitalismus rumänischer Prägung. Das ist meisterhaft gefilmt, voll bitterem Sarkasmus und sollte Bären-würdig sein.
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