Ihrer Zeit weit voraus

Étienne François über die Pariser Kommune und ihre Ausstrahlung bis heute

Am 28. März 1871 wurde die Pariser Kommune proklamiert. An ihr scheiden sich bis heute die Geister - von den einen mit Chaos und Anarchie gleichgesetzt, von anderen als Wetterleuchten einer neuen Zeit gefeiert. Wie fällt Ihr Urteil aus?

Ich versuche zu verstehen, was gewesen ist. Da ist einerseits die faktische Ebene: Wie ist was aus welchen Gründen geschehen, warum haben sich die Akteure so und nicht anders entschieden, was hat ihr Handeln bestimmt? Die zweite Ebene ist die Wahrnehmung der Kommune durch ihre Zeitgenossen wie auch der nachgeborenen Generationen. Dank ihrer säkularen Heiligsprechung durch Karl Marx hat sie eine große Ausstrahlung, einen prägenden Einfluss bis heute. Nach meiner Beobachtung ist sie in Deutschland das einzige Ereignis im Kontext des Deutsch-Französischen Kriegs, über das man noch spricht und streitet. Es ist weder der 2. September 1870, die Schlacht bei Sedan, als die Niederlage der französischen Truppen besiegelt wurde und Napoleon III. sich in deutsche Gefangenschaft begab, noch die Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches und die Krönung des preußischen Königs zum Kaiser am 18. Januar 1871 im Schloss von Versailles.

Interview

Étienne François (Jg. 1943) war Professor für Geschichte an der Université Nancy II und an der Sorbonne in Paris, er lehrte zudem an den Universitäten Straßburg , Göttingen und Stuttgart sowie an der TU und FU Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt sind nationale und kulturelle Mentalitäten im historischen Wandel und in transkultureller Perspektive.

Über die akademische Welt hinaus bekannt wurde der Gründungsdirektor des Centre Marc Bloch in Berlin durch den von ihm gemeinsam mit seinem deutschen Zunftkollegen Hagen Schulze herausgegebenen Band »Deutsche Erinnerungsorte«. Mit dem französischen Historiker, der unter anderem Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist, sprach Karlen Vesper.

Weil man nicht alte Wunden aus der Zeit der deutsch-französischen »Erbfeindschaft« aufreißen will, die seit den Versöhnungsbemühungen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer als überwunden gelten?

Weil man auf keinen Fall Kontinuitäten zwischen damals und heute beschwören will, aus moralischen und ideologischen Gründen, die ich nachvollziehen kann, die aber nicht dem wahren Verlauf der Geschichte entsprechen. Die Bundesrepublik steht in der Kontiunität des 1871 gegründeten ersten deutschen Nationalstaates, ist eine Folge dessen. Auch wenn das westdeutsche Demokraten nicht so recht akzeptieren wollen.

Waren die Preußen, war Otto von Bismarck de facto durch den mit der Emser Depesche provozierten Deutsch-Französischen Krieg ein Geburtshelfer der Kommune?

Nein. Machtbewusst und zynisch wie der preußische Ministerpräsident und erste deutsche Kanzler war, hat er sich sicherlich ins Fäustchen gelacht, aber er lieferte nicht den Anlass für die Erhebung des Pariser Volkes am 18. März 1871. Das war der Versuch der republikanischen Armee, auf Anordnung der nach der Absetzung von Napoleon III. gebildeten bürgerlichen Regierung unter Adolphe Thiers und seines Außenministers Jules Favre, die Nationalgarde zu entwaffnen, deren Kanonen auf dem Montmartre zu requirieren. Die Pariser waren empört, da sie diese Kanonen bezahlt hatten, damit die Preußen nicht Paris erobern. Dafür hatten sie Entbehrungen in Kauf genommen. In den proletarisch geprägten Stadtvierteln brach Unmut aus. Das Volk verbrüderte sich mit der Nationalgarde, besetzte das Rathaus, die Polizeipräfektur und einige Ministerien. Die Regierung und die Armee zogen sich nach Versailles zurück.

Marx nannte den Aufstand eine »verzweifelte Torheit« angesichts der feindlichen Truppen vor Paris.

Er hatte völlig recht, er war eigentlich unvernünftig. Aber kann man spontane Erhebungen verurteilen? Der Aufstand der Kommunarden war erstens gegen die konservative französische Republik und zweitens indirekt gegen die Preußen gerichtet. Das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen den Kommunarden sowie der republikanischen Armee und den preußischen Truppen war so massiv, dass die Aufständischen eigentlich von Anbeginn auf verlorenem Posten standen. Insofern hatte Marx recht. Der Aufstand entsprang der Verzweiflung und einer falschen Einschätzung der Kräfteverhältnisse.

Die Thiers-Regierung schloss mit den Deutschen ein Geheimabkommen, das ihr den ungehinderten Marsch auf das aufständische Paris ermöglichte. Eine transnationale unheilige Allianz der Reaktion?

Natürlich. Die republikanische Regierung verfügte im Parlament über eine große konservative Mehrheit. Diese fürchtete, dass die Deutschen noch mehr von Frankreich verlangen, die Kriegskontributionen aufstocken und außer Elsass-Lothringen weitere territoriale Ansprüche stellen würden, wenn man sich weiter gegen sie zur Wehr setzt, wie es die Aufständischen in Paris forderten. Zudem: Revolutionen werden von allen Konservativen, egal welcher Nationalität, gescheut wie der Teufel das Weihwasser scheut.

War die Kommune eher Vollstrecker der unvollendet gebliebenen Revolutionen in Frankreich oder verkörperte sie schon einen völlig neuen Revolutionstyp, den proletarischen?

Sie war ambivalent. Fakt ist, dass sie zu mindestens 80 Prozent eine Fortführung der radikalen Strömungen in der sogenannten Großen Französischen Revolution, der Jakobiner und Sansculotten war. Ebenso der Julirevolution von 1830, die in eine gemäßigte umschlug und von der sich das Volk mehr als den Sturz der Bourbonen erhofft hatte, sowie des Arbeiteraufstandes im Juni 1848, der ebenfalls blutig niedergeschlagen worden ist. Der März 1871 ist diesen Erinnerungen entsprungen, er war eine Folge unerfüllter Forderungen und ist auch vergleichbar hinsichtlich der sozial-kulturellen Herkunft der Akteure. Die Kommune wurde vor allem von Handwerkern und Kleinbürgern getragen, weniger von der damals zahlenmäßig noch nicht so starken Industriearbeiterschaft. Auf der anderen Seite hatte die Kommune ein tiefrevolutionäres und antizipierendes Programm.

Die von den Kommunarden beschlossenen sozial-ökonomischen Maßnahmen lassen den heutigen »Sozialstaat« alt aussehen: Mindestlöhne, gleiche Löhne für Mann und Frau, Maßnahmen gegen Mietwucher, Requirierung ungenutzter Immobilien wie auch der Produktionsmittel, Abschaffung der Privilegien von Beamten etc.

Sie haben Recht. Die heutigen sozialstaatlichen Maßnahmen entsprechen den Zielen der gemäßigten Sozialdemokraten oder Sozialisten, aber nicht den Realitäten und Notwendigkeiten der Zeit. Die Vorschläge von Thomas Picketty, dem ehemaligen wirtschaftspolitischen Berater der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, zielen auf sozialen Ausgleich und effizientere Maßnahmen gegen die Exzesse des Kapitalismus, also auf dessen Einzäumung. Das ist nicht das, was die Kommunarden wollten. Sie wollten den Kapitalismus als asoziale und inhumane Gesellschaftsordnung überwinden.

Waren die Kommunarden von Paris ihrer Zeit voraus und hinken wir den Geboten unserer Zeit hinterher?

Beides. Die Kommunarden waren ihrer Zeit weit voraus, in dem sie einen kompromisslosen Egalitarismus anstrebten oder auch schon praktizierten und die Postulate der französischen Aufklärer und Revolutionäre von 1789 ernst nahmen: »Alle Menschen sind gleich.« Mann und Frau sind gleichberechtigt, ebenso Franzosen und Ausländer. Die Kommunarden beschlossen komplikationslose Einbürgerung. Und ihnen war es auch ernst mit der Trennung von Staat und Kirche. Im Gegensatz zu ihren Ahnen von 1789 haben sie zudem nur anfangs und begrenzt zu Gewalt gegriffen, mussten sich dann aber natürlich auch mit Waffengewalt verteidigen.

Ist Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker nicht legitim?

Anwendung von Gewalt ist nie wünschenswert. Die Gewalt der Kommunarden war eine verzweifelte. Sie erinnert mich an die zwei Aufstände von Warschau 1943 und 1944 von den Juden im Ghetto angesichts der drohenden Deportation nach Auschwitz und dann von polnischen Patrioten, als sich die Niederlage des Hitlerregimes abzeichnete. Man fühlte sich dazu verpflichtet, trotz einer so gut wie auswegslosen Situation - als Ehrenrettung, zur Wahrung der eigenen Würde. Sicher hatten auch die Kommunarden die Hoffnung, wenn erst mal Paris gewonnen ist, würde bald ganz Frankreich eine einzige Kommune sein. Die Hoffnung erwies sich als Illusion.

Wo sehen Sie die Ideen der Pariser Kommune aufgehoben, die Friedrich Engels eine »Diktatur des Proletariats« und Karl Kautsky die »erste Arbeiterregierung der Welt« nannte?

Auf sie berufen sich natürlich alle Parteien und politischen Bewegungen, die marxistisch geprägt sind. Inwieweit zu Recht, steht auf einem anderen Blatt. Eine Straße in Ostberlin, der Hauptstadt der DDR, wurde nicht zufällig 1971 in »Straße der Pariser Kommune« umbenannt. Und ich vermute, dass sich nicht zufällig dort auch das Redaktionsgebäude vom »Neuen Deutschland« befand.

Das sich doch auch noch befindet.

Ja. Jedenfalls ging mit Berufung auf die Kommune von 1871, die leider gescheitert ist, die Versicherung einher, dass die neuen, aus ihr lernenden Revolutionen notwendigerweise siegen und sich behaupten werden.

Auch die Gelbwesten beriefen sich auf die Kommune. Zu Recht?

Ob legitim, weiß ich nicht. Das ist aber nicht untypisch. Wenn eine neue Bewegung startet, sucht sie sich ein Vorbild - für die stärkere Wahrnehmung nach außen und den Zusammenhalt nach innen. Die Gilets jaunes stellen jedoch keine homogene Protestbewegung dar, viele Gelbwesten sind nicht antikapitalistisch eingestellt, sondern im Gegenteil konsumbestimmt und lehnten daher auch Maßnahmen ab, die zum Schutz der Umwelt beschlossen worden sind.

Was könnte aus der politischen Praxis der Kommunarden für die praktische Politik des 21. Jahrhunderts relevant sein?

Die bedingungslose Gleichberechtigung von Mann und Frau. Gleichberechtigt auch im Rat der Kommune und auf den Barrikaden. Das Paradebeispiel hierfür ist Louise Michel, unvergessen bis heute. Zweitens, dass die Machtstrukturen der Kommunarden viel weniger hierarchisch waren und sich total von der Klassen- und Standesgesellschaft unterschieden. Plebiszitäre Elemente sollten zur Geltung kommen. Jeder Bürger sollte, wenn er mit der Entscheidung einer Behörde nicht einverstanden war, dies auch sagen können; er sollte das Recht haben, das man ihm zuhört und er mitbestimmen könne, wenn es um seine Belange ging.

Zu den unschönen Dingen gehörten die Inbrandsetzung des Rathauses und des Palais des Tuileries, über Jahrhunderte Residenz der französischen Könige und Kaiser, sowie anderer Repräsentationsgebäude. Solche Zerstörungswut oder Bilderstürmerei hat es aber auch früher gegeben, beispielsweise in der Reformation. Und auch nach der deutschen Vereinigung ist vieles zerstört oder abmontiert worden, was die Kommunisten erbaut oder aufgestellt hatten. Ich habe hierfür keinerlei Sympathien, aber es sind eben Begleiterscheinungen von Umbrüchen.

Wie stand und steht es um die Erinnerung an die Kommunarden in Frankreich?

Zehn Jahren nach der Kommune hat sich die III. Republik von den grausamen Repressionen, Hinrichtungen und Deportationen distanziert und Gedenkveranstaltungen akzeptiert. Die erste, angeregt vom marxistischen Sozialisten Jules Guesdes fand 1880 am »Mur des Fédérés«, der Mauer der Föderierten, auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise statt und zählte beachtliche 25 000 Teilnehmer. Beim Gedenken an die Pariser Kommune 1936, zu Beginn der Volksfront, versammelten sich um den Sozialisten Léon Blum und den Kommunisten Maurice Thorez 600 000 Menschen zum Gedenken.

Gab es zum 150. Jahrestag des Beginns der Kommune in Paris Veranstaltungen?

Ja, es gab sogar eine offizielle Gedenkveranstaltung, einberufen vom Stadtrat von Paris, beschlossen von der Mitte-Links-Mehrheit der Ratsabgeordneten; die Konservativen waren dagegen. Sie fand auf dem Montmartre statt, in der ersten Reihe saß die Bürgermeisterin Anne Hidalgo und coronabedingt in gebührenden Abständen Vertreter verschiedener Institutionen - zwischen ihnen hatte man Pappfiguren platziert, die berühmte Kommunarden abbildeten. Die Gäste saßen mit dem Rücken zur Basilika Sacré-Cœur, die nach der Niederschlagung der Kommune errichtet worden war - als Warnung und Sühne für die »Sünden« der Revolutionäre. Die radikalen Linken fanden diese Gedenkveranstaltung zu lieb, zu nett, zu beschaulich und einvernehmend. Sie organisierten eine Gegendemonstration und sangen die Internationale so laut, dass die Lieder der Kommune von der offiziellen Veranstaltung übertönt wurden.

Mit gefiel dieses Bild des konträren Gedenkens. Es beweist, dass in Frankreich die Kommune nicht vergessen und die Erinnerung an sie noch lebendig und gegenwärtig ist. Die Pariser Kommune wirkt auf ihre Art nach, auch auf die Gestaltung unserer Zukunft.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -